VI. Das Menschenleben.
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Menschenhand überhaupt an vielen Stellen abgelöst worden ist. Der
Dampf hat die Welt umgewandelt! Der Handwerker muß vielfältig
dem Fabrikanten weichen; er zieht dafür, soviel er kann, die Arbeit
an sieb, die früher jeder für sich selbst ausführte. Jetzt sind ein Brot
oder ein Kuchen, die nicht der Bäcker gebacken hat, eine Seltenheit;
der Bäcker muß sich seinerseits vor der Brotfabrik mit Dampfbetrieb
und Dampfmühle wehren, die ihm die Kundschaft zu rauben droht.
Der Fleischer hat nicht mehr damit zu rechnen, daß seine Kunden einen
großen Teil des Jahres hindurch von ein geschlachteten Vorräten leben;
dafür empfindet er eine erhebliche Schmälerung seines Verdienstes
durch die Sendungen von zubereitetem oder frischem Fleisch, die der
Dampf aus Amerika und Australien bis in die kleinste deutsche Stadt
trägt. Amerikaner trocknen für uns Apfel und kochen Pfirsiche ein:
englische, schottische, elsässische Fabriken versehen uns mit anderen
eingemachten Früchten und Obstsäften; der Chinese schickt uns den
zubereiteten Ingwer. In den großen Städten ist nicht nur alle Leib¬
wäsche und Tischwäsche fertig im Laden zu haben, jedes einzelne Stück
der Kleidung und der häuslichen Einrichtung in größter Auswahl wird
dem Käufer so anlockend wie möglich vorgelegt. Dem in entlegenster
Gegend wohnenden Kunden bringt der mindestens täglich einmal er¬
scheinende Briefbote den illustrierten Katalog ins Haus; eine Postkarte
für fünf Pfennig, ja bis nach Ostindien und Brasilien hin für zehn
Pfennig, verständigt den Verkäufer von den Wünschen der Kundschaft;
für fünfzig Pfennig geht eine nicht zu schwere Warensendung von
Straßburg nach Memel und von den Ufern des Bodensees nach Apenrade.
Es wäre nicht zu verwundern, wenn spätere Geschichtsschreiber
dem Jahre 1850 eine so große Bedeutung zuschrieben, wie wir jetzt den
Jahren 476 oder 1492. Freilich schließt nicht ein einzelnes Ereignis
um die Zeit eine Kulturepoche ab. Aber das gesamte häusliche und
wirtschaftliche Leben unseres Volkes und aller gesitteten Völker hat etwa
von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an einen so veränderten
Charakter angenommen, daß der Wendepunkt, je weiter man sich von
ihm entfernt, desto deutlicher hervortreten wird. Mathilde Lammera.
149. Verschiedene Übergänge.
L^Hir saßen — erzählte jemand — unser sechs oder sieben eines Abends in
einem Bierhaus, als ein Mann eintrat und auf uns zukam, den
wir von der Schule in der Provinz her kannten. Damals betrachteten wir
ihn als eine Art Meerwunder, weil er sich glücklich durch alle Klassen schlug,