Full text: [Teil 5 = Kl. 3, 2 u. 1, [Schülerbd.]] (Teil 5 = Kl. 3, 2 u. 1, [Schülerbd.])

490 
bildet den eigentlichen Urstoff der Seide. Zwei schlanchartige Säcke, welche 
an der unteren Seite des Körpers liegen, nehmen jenen Schleim auf, um 
ihn in die beiden obenerwähnten Spinnwarzen iiberzuführen, aus denen 
dann der Faden sich entwickelt. 
Es leuchtet ein, daß die Seidenzucht überall gedeihen mußte, wo 
der Maulbeerbaum gedieh. Dennoch verbreitete sie sich nur langsam. 
Die ältesten europäischen Webereien wurden erst im sechsten Jahrhundert 
unserer Zeitrechnung unter Justinian angelegt, während der chinesische 
Seidenbau bis in das dritte Jahrtausend vor Christus zurückweist. Als 
die eigentliche Erfinderin desselben wird Si-ling-schi, die Gemahlin des 
Kaisers Hoang-ti (um 2640) genannt, die ebendeshalb den Namen 
„Mutter der Seide" führt, und es scheint, daß auch die Gemahlinnen 
der nachfolgenden Herrscher jene echt weibliche Beschäftigung begünstigten 
und durch ihr eigenes Beispiel adelten. Ja, die Herrscher selber blieben 
in ihrem Eifer nicht znriick. Wie sie Jahr um Jahr dem Ackerbau 
in einer uralten Feierlichkeit huldigten und mit eigener Hand den Pflug 
ergriffen, um die ersten Furchen zu ziehen, so begaben sie sich auch zu 
gewissen Tagen des Jahres im einfachen Gewände, eine Lederkappe 
auf dem Haupt, in den Maulbeergarten, um dort mit ihren Gattinnen 
die Eier der Schmetterlinge zu sammeln und zu waschen, Blätter zu 
pflücken und die Würmer zu füttern. Nach Europa ist die Seide erst 
durch die Siegeszüge Alexanders des Großen verpflanzt worden. Er 
selber vertauschte im Orient den mazedonischen Kriegsmantel gegen den 
medischen Kaftan, der nach gewöhnlicher Annahme eben aus Seide 
bestand, und sein Admiral Nearchos beschrieb die Gewinnung des 
neuen Webstoffes. Freilich erzählte dieser, die „schimmernde Wolle 
werde von der Rinde gewisser Bäume abgelöst", was Spätere gar in ein 
Herabkämmen von den Blättern der Bäume verwandelten, so daß hier 
vielleicht an eine Verwechselung mit der gleichzeitig bekannt gewordenen 
Baumwolle zu denken sein wird. 
Nach der Erzählung des Geschichtschreibers Proeopius erschienen im 
Jahre 530 zwei Mönche von dem Orden des Basilius vor dem griechischen 
Kaiser Justinian und legten ihm die Samen eines Baumes vor, auf dem 
sie in China den Seidenwurm gefunden. Sie mochten meinen, daß das 
Insekt sich auf und aus der Maulbeere erzeuge. Als aber nach Verlauf 
von Jahren ihr Irrtum klar ward, bewog Justinian die kühnen Missionare 
zu einer zweiten Reise in das Vaterland des Seidenwurms, um nun 
diesen selbst zu holen. Das Wagnis gelang, obgleich Todesstrafe auf die 
Ausführung des Insektes gesetzt war. In ihren ausgehöhlten Wander¬ 
stäben hatten die beiden Mönche die Eier verborgen und ihre Beute 
glücklich über Meere und durch Wüsten getragen, bis sie im Jahre 552 
in Konstantinopel anlangten und dem Kaiser die wunderbaren Tier¬ 
samen überreichen konnten. So hatte der Orden des Basilius dem
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.