G4 Buch II. Physische Geographie. Cap. IV. Die Pflanzenwelt.
200000 verschiedene Pflanzenarten unserem Planeten angehören; aber
wie ungleich ist dieser Reichthum vertheilt. Spitzbergen trägt 89 Pha-
nerogamen, Island 402, Deutschland und die Schweiz 3454, Süditalien
über 3000, Englisch Indien von der Meeresfläche bis zu den Gipfeln
des Himalaya 9000, der Gipfel des Brockens (über 3000') 142, die
Insel Ascension (60° s. Br.) 39, die Galopagoöinseln (0° Br.) 226 Arten.
Und während in einigen Ländern wenige Arten in einem alles bedecken¬
den Pflanzenznge weite Erdstriche innehaben (der Hcidengürtcl im mitt¬
leren Europa, die Tannenwälder des östlichen Europa und in Sibirien),
findet sich an andern Stellen z. B. im brasilianischen Urwald kaum eine
Spur gesellig wachsender Pflanzen. Einige Länder z. B. Rcuholland
sind arm an nutzbaren Pflanzen, an anderen Stellen (Hinterindische In¬
selwelt) hat. die Natur ihre Gaben mit verschwenderischer Hand ausge¬
streut. Mächtig hat aber der Mensch in diese Veihältmsse eingegriffen
und fast überall, freiwillig und unfreiwillig, Pflanzen ferner Zonen ver¬
breitet. So ist Australien durch ihn seit hundert Jahren fast ein an¬
deres Land geworden. Aber wie wirkt die Pflanzenwelt auch rückwärts
auf den Menschen ein! Wie spricht sich nicht die überwältigende Fülle
und der kaum übersehbare Formenreichthum des indischen Waldes in der
Maßlosigkeit der religiösen Vorstellungen, wie in den poetischen Gebilden
der Inder ans, und wer möchte die classische Formenstrcnge der antiken
Poesie nicht wiedererkennen in den fast geometrisch regelmäßigen For¬
men der Cypresse, der Pinie, der Palme? Wer möchte zweifeln, daß die
Gothische Baukunst, wenn ihr Ursprung auch in der Anwendung mecha¬
nischer Principien ruht, in der Ausführung im einzelnen das künst¬
lerische Abbild des deutschen hochstämmigen Lanbivaldes ist? Aber ganz
abgesehen von diesen höchsten Erzeugnissen menschlicher Geistesthätigkeit,
wurde die menschliche Gesellschaft an den verschiedenen Stellen der Erde
durch die verschiedene Entwickelung der Pflanzenwelt aufs mannichfachste
gefördert und gehemmt. Das reiche Vorkommen und das üppige Wachs¬
thum unserer Cerealien rief die Culturstaaten in Mesopotamien hervor;
der Reis hat das chinesische Volk von den Bergen in die weiten Ebenen
des chinesischen Tieflands geführt lind dort jene ungeheure Bevölkerung
sich ansammeln lassen, die jetzt mit ameisenartiger Betriebsamkeit sich zu
Nutze macht, was Land und Fluß und Meer nur immer brauchbares
hervorbringen. Der gänzliche Mangel an nutzbaren Gewächsen hielt die
Rothhäute Nord-Amerikas, so wie die Urbevölkerung Australiens auf der
Stufe des Jagd- und Sammcllebens zurück. Den verständigen und
thatkräftigen Bewohnern Ncu-Seclands mußte es wie eine Erlösung er¬
scheinen, als ihnen durch Einführung europäischer Culturgewächse, die
Möglichkeit zu höherer Ausbildung gegeben wurde. Und wo in den
heißen Ländern der Erde die Natur ohne Zuthun des Menschen, wie in
den Urwäldern Süd-Amerikas, mit freigebiger Hand ihm ihre Früchte
in den Schooß wirft, wie macht sich da nicht die natürliche Trägheit gel¬
tend, so daß die dortige Menschheit auf dem Zustande der Cultnrlosig-
kcit verharrt, oder, wie es bei so vielen eingewandertcn Europäern der
Fall ist, wieder in Culturlosigkcit versinkt! Und wie viel reicher wird