Full text: [Teil 5 = Kl. 3, 2 u. 1, [Schülerbd.]] (Teil 5 = Kl. 3, 2 u. 1, [Schülerbd.])

Kleinigkeit! Könnte ich großmütiger, könnte ich uneigennütziger handeln? 
— Du lachst, Schäfer? Worüber lachst du denn?" 
„O, über nichts; aber wie alt bist du, guter Freund?" sprach der 
Schäfer. 
„Was geht dich mein Alter an? Immer noch alt genug, dir deine 
liebsten Lämmer zu erwürgen." 
„Erzürne dich nicht, alter Isegrim! Es tut mir leid, daß du mit 
deinem Vorschlag einige Jahre zu spät kommst. Deine ausgebissenen 
Zähne verraten dich. Du spielst beit Uneigennützigen, bloß um dich desto 
gemächlicher, mit desto weniger Gefahr nähren zu können." 
4. 
Der Wolf ward ärgerlich, faßte sich aber doch und ging auch zu 
dem vierten Schäfer. Diesem war eben sein treuer Hund gestorben, und 
der Wolf machte sich den Umstand zu nutze. 
„Schäfer," sprach er, „ich habe mich mit meinen Brüdern in dem 
Walde veruneinigt, und so, daß ich mich in Ewigkeit nicht wieder mit 
ihnen aussöhnen werde. Du weißt, wieviel du von ihnen zu fürchten 
hast! Wenn du mich aber anstatt deines verstorbenen Hundes in Dienst 
nehmen willst, so steh' ich dir dafür, daß sie keines deiner Schafe auch 
nur scheel ansehen sollen." 
„Du willst sie also," versetzte der Schäfer, „gegen deine Brüder im 
Walde beschützen?" 
„Was meine ich denn sonst? Freilich." 
„Das wäre nicht übel! Aber wenn ich dich nun in meine Hürden 
einnähme, sage mir doch, wer sollte alsdann meine armen Schafe gegen 
dich beschützen? Einen Dieb ins Haus nehmen, um vor den Dieben 
außer dem Hause sicher zu sein, das halten wir Menschen-" 
„Ich höre schon," sagte der Wolf, „du fängst an zu moralisieren. 
Lebe wohl!" 
5. 
„Wäre ich nicht so alt!" knirschte der Wolf; „aber ich muß mich 
leider in die Zeit schicken." Und so kam er zu dem fünften Schäfer. 
„Kennst du mich, Schäfer?" fragte der Wolf. 
„Deinesgleichen wenigstens kenne ich," versetzte der Schäfer. 
„Meinesgleichen? Daran zweifle ich sehr. Ich bin ein so sonder¬ 
barer Wolf, daß ich deiner und aller Schäfer Freundschaft wohl 
wert bin." 
„Und wie sonderbar bist du denn?" 
„Ich könnte kein lebendiges Schaf würgen und fressen, und wenn 
es mir das Leben kosten sollte. Ich nähre mich bloß mit toten Schafen. 
Ist das nicht löblich? Erlaube mir also immer, daß ich mich dann und 
wann bei deiner Herde einfinden und nachfragen darf, ob dir nicht —" 
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