Full text: [Teil 5 = Kl. 3, 2 u. 1, [Schülerbd.]] (Teil 5 = Kl. 3, 2 u. 1, [Schülerbd.])

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„Willst du's mir nicht sagen, Möpschen? Mir kannst du's doch 
sagen." 
Er hatte sich auf den untern Teil des Schwebebaumes gesetzt; der 
Kleine stand zwischen seinen Knien, die Hände in den Händen des Lehrers. 
„Meine — Mutter" — fing der Knabe an — dann kan: wieder 
ein Schlucken und schnitt ihm die Worte ab. 
Die breite, fleischige Hand des alten Daniel tätschelte ihm den Kopf, 
klopfte ihn in den Rücken. 
„Meine Mutter — hat geschrieben — sie ist so krank — und — 
und —" 
Ein Tränenstrom brach abermals von seinen Augen; mit aus¬ 
gebreiteten Armen stürzte er sich plötzlich dem alten Professor um den 
Hals. Es war kaum zu vernehmen, was er sagte. 
„Und — sie glaubt — sie wird nicht wieder gesund werden." 
Wir waren alle nahe herangetreten, alle ganz still geworden. 
„Und da — bin ich hierher gegangen — und habe gedacht — wenn 
ich auf dem Schwebebaum — bis ans Ende kommen würde — und nicht 
herunterfallen würde — dann — habe ich gedacht — würde das ein 
Zeichen sein — das der liebe Gott mir gäbe — und meine Mutter 
würde noch wieder gesund werden." 
Der alte Daniel drückte den Kopf des Kleinen an seinen Hals. 
„Und bist du denn bis ans Ende gekommen?" 
Der Körper des Knaben zitterte und fieberte. „Wie ich — beinahe 
bis ans Ende war, sind sie gekommen — und haben mich 'runtergeworfen." 
Der Lehrer hob das Haupt auf, und seine sonst so milden Augen 
gingen wie ein vernichtendes Feuer über uns hin. 
Kummervoll schüttelte er das Haupt, dann beugte er sich nieder zu 
dem Knaben. „Du armes Kind," sagte er, „du armes Kind!" 
Er wartete, bis der Kleine sich einigermaßen beruhigt hatte. Dann 
stand er auf, drückte ihn an sich und schlug mit ihn: den Weg zur 
Anstalt ein. 
„Geht ihr jetzt auch nach Haus," wandte er sich an uns, „es ist 
Zeit zur Arbeitsstunde!" 
Hinter dem alten Daniel zogen wir einher, lautlos wie eine Schar 
von Übeltätern. 
Am andern Morgen erzählte uns der Stubenälteste des Jungen, daß . 
in der Nacht, als schon alles im Schlafe gelegen, sich die Stubentür ge¬ 
öffnet hatte. Der alte Daniel war geräuschlos hereingekommen und an 
das Bett getreten, in dem Möpschen lag. Die Hand hatte er vor die 
Flamme des Lichts gehalten, das er in Händen trug; und so hatte er 
lange gestanden, lange und schweigend auf das schlummernde Kind her¬ 
niedergesehen. Mit einem Seufzer hatte er sich dann abgewandt, und 
geräuschlos, wie er gekommen, war er wieder gegangen.
	        
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