2. Briefe der frau Rat Goethe»
1. An Lavater.*)
^.usgewäblt und eingeleitet von Ulbert Lösten. 21.—30. Tausend.
Leipzig 1909. S. 1.
Frankfurt, den 26. Oktober 74.
Meine teuren Freunde!
Ihr wollt den ganzen Unifang Von der Krankheit und dem Tode
unserer Fräulein Klettenberg**) wissen? Ein schmerzlicher Auftrag!
Dies kann ich Euch versichern. Mein Gemüt ist so ganz in Traurigkeit
verloren, daß ich mir nicht zu raten noch zu helfen weiß. Ich weiß, ich
werde sie wiedersehen; aber jetzt, jetzt fehlt sie mir! Meine Ratgeberin,
in deren Schoß ich alles ausschütten konnte, ist in die Herrlichkeit ein¬
gegangen, wovon sie so oft mit Entzücken sprach. Ihr seid noch hier,
ich bin noch hier — aber es wird ein Tag kommen, dann wird sie auf¬
erstehn! Dann werden wir auferstehen und uns freuen mit unaussprechlich
herrlicher Freude! Amen.
Am 7. Oktober waren wir sehr vergnügt beisammen, ich habe sie
lange nicht so munter gesehen, nicht der kleinste Gedanke von Krankheit
siel mir ein. Um 8 Uhr gingen wir von einander. In der Nacht bekam
sie einen heftigen Frost, hernach Hitze. Am 8. erfuhr ich nichts davon,
am 9. früh ließ sie mir sagen, sie wäre krank; wie ich zu ihr komme,
fand ich sie ganz leidlich, sie selbst glaubte, es werde nichts zu sagen
haben; den 10. wurde sie schlimmer, aber in der Nacht wurde es dem
Anschein nach wieder besser, ich verließ sie nicht. Als am 11. der
Medikus in die Stube kam, lief ich voller Freude ihm entgegen. — „Sie
ist besser!" sagte ich. „Das gebe Gott," sagte er, „aber wir sind noch
nicht über den Berg!" Am 12., sobald ich frühmorgens zu ihr kam,
sagte sie: „Gute Nacht, Rätin, ich sterbe!" Bor Weinen konnte ich kein
Wort rebeit. Sie winkte, ich sollte näher kommen, driickte mir die Hand
und sagte: „Wandle vor ihm und sei fromm!" — sahe mich mit unaus¬
sprechlich heiterm Gesichte an und war sehr ruhig und vergnügt.
Nachmittag kamen einige christliche Freunde zu ihr. Wir fragten,
ob sie leiden könne, wenn wir einige christliche Verse sängen. „O ja!"
sagte sie. Wir sangen: „Komm! ist die Stimme deiner Braut," und sie
*) Lavater (1741- 1801), der berühmte Züricher Prediger und Erbannngsschrift-
steller, hatte auf der Badereise, die er int Jahre 1774 nach Ems unternommen, auch
das Goethefche Haus in Frankfurt besucht und stand seitdem mit der Frau Rat in
jahrelangem Briefwechsel.
**) Susanne Katharina von Klettenberg war mit der Frau Rat seit Jugendtageu
befreundet; was diese beiden Frauen vor allem verband, war ihre innige, heitere,
zuversichtliche Frömmigkeit.