Full text: [Teil 4 = 8. u. 9. Schulj, [Schülerbd.]] (Teil 4 = 8. u. 9. Schulj, [Schülerbd.])

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Auf Augenblicke nur sah man dort unten weiße Flocken blinken, 
ohne abschätzen zu können, ob sie sich ganz nahe oder turmtief 
unter uns bewegten. Das waren die Schaumkronen der sturm— 
gepeitschten Wellen. Über uns war ein Wühlen und Wallen, ein 
Sausen und Seufzen, ein Klatschen und Krachen, als ob der „wilde 
Jäger“ und der „fliegende Holländer“ sich in den Haaren lägen. 
Aber wir kamen vorwärts, Schritt für Schritt. Die Brücke zitterte 
fühlbar, aber sie stand noch. Wenn es so fortging, konnte vielleicht 
alles gut werden. 
Da nach zwanzig Schritten das Ufer in undurchdringliche Finster— 
nis versunken war und uns das gleiche, bleierne Schwarz entgegen— 
starrte, zählte ich die Pfeiler, über die wir kamen, um ungefähr 
zu wissen, wo wir uns befanden. Es war dies möglich, obgleich 
sie nicht zu sehen waren, weil das Geländer auf jedem Pfeiler 
von einem höheren, reichornamentiertenS Pfosten getragen wurde, 
der uns sozusagen durch die Finger ging. So wußte ich, wie lang— 
sam wir vorwärtskamen, und nachdem wir fünf, sechs Pfeiler hinter 
uns hatten und über einer scheinbar unendlichen See hingen, die 
einförmig, unablässig, in schwarzer Wut unter uns toste, gewöhnte 
ich mich an unsern krebsartigen Gang und fing an, mich über meine 
kalt werdenden Hände zu ärgern, wie wenn es eine alltägliche Be— 
schäftigung wäre, so in die unergründliche Nacht hinauszuklettern. 
Auch ging es nach jedem Pfeiler rascher. Ich glaube, ich wäre förm— 
lich munter geworden, wenn nicht das leise, unheimliche Zittern der 
Brücke mich von Zeit zu Zeit daran erinnert hätte, daß wir auf 
einem Todesgange begriffen waren. Jetzt hörte man aus weiter 
Ferne den hartklingenden Schlag eines Eisens — jetzt wieder. Dies 
war unerklärlich, unnatürlich. Ich hielt an und lauschte, hörte dann 
aber nur das Pfeifen des Windes und das dumpfe, summende Zischen 
des Wassers unter meinen Füßen. Weiter! 
Knox war ohne Zweifel an diese Art der Fortbewegung ge— 
wöhnt. Jedenfalls ging es bei dem alten Manne schneller als bei 
mir. Ich konnte im Dunkeln oft kaum mehr die Umrisse seiner Ge— 
stalt erkennen. Wir mußten uns dem mittleren Teil der Brücke 
nähern. Wenn ich richtig gezählt hatte, lag der sechsundzwanzigste 
Pfeiler hinter uns. Ich erinnerte mich, daß vom siebenundzwan— 
zigsten an das Bahngeleise innerhalb der höher liegenden Gitterbalken 
läuft, anstatt, wie bisher, auf der oberen Flansche 46 derselben. Meine 
Hoffnung stieg, daß sich noch alles zum Guten wenden müsse. Auch 
hatte seit den letzten zehn Minuten der Sturm rasch nachgelassen. 
Das schwarze Gewölk über uns zeigte Risse und lichtbraune Ränder. 
Ich fing an aufzuatmen.
	        
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