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der See. Und auch in ähnlicher Weise wohltuend, denn er kühlt
die Stirn und schläfert ein; er beruhigt das stadtmüde Auge, das
dem blendenden Sonnenbrand auf dem Asphalt der öden Straßen
endlich entflohen ist. O, du sommerliches, grünes Meer des Binnen—
landes, wie schön bist du!
2. Zwischen dem wogenden Spiel der Gräser erscheinen überall
verstreut die bunten Farbenflecke der Blumen. Der goldgelbe Ginster
am Wiesensaum und die orangegelbe Heidepflanze Arnika, das
Bergwohlverleih unsrer Alpen, der Wundklee und das bleiche
Wiesenschaumkraut, die niedrige Distel und hie und da das edle
Knabenkraut, die deutsche Orchidee mit ihren süßduftenden, rot—
violetten Blüten und den dunkelgefleckten Blättern. Dazwischen
öffnen die Sternenblumen der Margareten und Kamillen ihre weißen
Kelche, oder ein verstecktes Vergißmeinnicht und schwankende wilde
Wicken an nickenden, dünnen Stielen. Hie und da noch ein gelbes
Fingerkraut und an feuchten Stellen der goldgelbe Hahnenfuß, der
nahe Verwandte jener großen Dotterblumen, die im ersten Früh—
ling wie goldene Straßen an allen Bächen und Gräben unsrer
Wiesen entlang laufen. Jenes glänzende Gold ist jetzt längst dahin,
verblüht und untergegangen im alles überflutenden Meere der
Gräser.
3. Der Gräser Menge ist nicht zu zählen. Da gibt es Roggen
und weiche Trespen, blaugrüne Buntschwingel, in borstigen Horsten
stehend, duftendes Ruchgras und haarfeine Drahtschmiele, Schiller—
gras und Hasenpfoten. Sie wiegen sich und neigen sich zueinander
im lustigen, sorglosen Sommerreigen ihres kurzen Lebens. Denn
eines Tages wird der Sensenmann kommen, und dann wird sich
mein Meer verändern und verwandeln. Es blinkt die Sense, ein
schläfriges Dengeln klingt durch den Sommertag, dann rauscht das
Gras und fällt. Die zitternde Welle wird umgelegt, sie erstarrt
und ruht in aufgehäuften Schichten, noch im Tode schön und
duftend und sommersegensvoll ohnegleichen. Und nun erscheint
die Fläche des Wiesenmeeres wieder tief smaragdengrün, aber
regungslos; denn in dem kurzgeschnittenen Samtgras spielt kein
Windhauch mehr.
4. Aber heute ist's noch nicht so weit, und alle die bunten Blumen
denken noch nicht an den Sensenmann. Drüben am jenseitigen
Ufer stehen die Kiefernstämme rötlich zwischen tiefgrünen Laub—
bäumen, und die Mittagsonne breitet ihren Zauber über die weite,
stille Fläche. Das ist die heimliche, verwunschene Stunde im Mit—
tagsglast eines Hochsommertages; da wage dich nicht allein hinaus