Full text: [Teil 2 = Oberstufe, [Schülerband]] (Teil 2 = Oberstufe, [Schülerband])

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Giebeln ragt sein gewaltiges Nest. Denn eines Hochsitzes bedarf er, um 
sich frei umschauen zu können in dem Gebiete seiner Wiesen, Wälder und 
Sümpfe. Er ist ein wunderbarer Vogel. 
2. Sieh seine Gestalt an! Auf dem hohen Stelzfuß wiegt er den statt¬ 
lichen Leib; sein Kleid ist weiß und schwarzgesäumt, sein Schwanz kurz und 
stumpf, der Hals schlank und straff. Über der hohen Stirn legt sich das 
Gefieder glatt an; sein Auge blickt hell und ehrbar aus den schwarzen 
Brillenringen; weithin streckt sich sein Schnabel. Steif und feierlich ist 
Gang und Haltung. Schweigend und stolz geht er durch die Feldkanäle und 
Wiesen; mit jedem Schritt hebt er gemessen den langen Fuß auf, während 
Kopf und Hals beständig vornüber nicken. Gewahrt er den fetten, zappelnden 
Frosch, so schleudert er mit einem Rucke seinen spitzen Schnabel vorwärts 
und fängt den Unglücklichen, um ihn in der Tiefe seines Kropfschlundes zu 
verbergen. Geräuschlos ist seine Jagd. Plötzlich stößt ihm etwas Ungewöhn¬ 
liches auf. Nun steht er still; das eine Bein zieht sich dicht unter den Bauch 
hinan und umklammert das andre. Der Hals reckt sich forschend in die 
Höhe. So bleibt er regungslos minutenlang stehen, bis er sich überzeugt, 
daß er ungefährdet weiterziehen kann, oder daß weise Vorsicht Flucht ge¬ 
bietet. Der mächtige Körper hat Mühe, sich zu erheben. Er macht ein paar 
ungeschickte Sprünge, einige schwere Flügelschläge erfolgen, der Fuß streckt 
sich nach hinten, und die Masse hebt sich kaum über den Boden. Da mit 
einem Rucke schwingt er sich auf, und nun zeigt er uns in herrlichen Zügen 
das Schauspiel seines schönen Fluges. Oft schwimmt er lange Strecken ohne 
Stoß und Schlag dahin, um endlich in schiefer Schraubenlinie zu seinem 
Neste niederzugleiten, wo ihn die hungernde Brut in klappernder Sprache 
begrüßt. 
3. Der Storch ist ein vorsichtiger Hausvater. Zwei Wochen geht er 
vor dem Weibchen voraus und kehrt bei uns ein, um Rundschau zu halten. 
Hat er die alte Dachfirst mit dem verlassenen Neste wieder gefunden,' und 
hat er die Gegend durchspäht, dann verschwindet er, um mit seinem Weibchen 
wieder zu erscheinen. Unter seltsamen Verbeugungen und mit fröhlichem 
Geklapper begrüßen sie das Nest und fangen sogleich den Ausbau desselben 
an. Zuweilen kommt es vor, daß er sein Nest verteidigen muß. In den 
Grenzen seines Gebietes erscheint ein andrer Storch. Der Storchmann hat 
ihn von weitem geschaut, und in sausendem Fluge stürzt er sich seinem Neste 
zu, um Haus und Weib zu schirmen. Er hat es erreicht; dicht hinter ihm 
aber schwebt der Feind. Der Storch duckt sich nieder und richtet zischend 
seinen Schnabelspieß empor; zugleich schwingt er die Flügel zum zerschmet¬ 
ternden Hiebe. Der Kampf beginnt. Beide Kämpfer bohren sich die Schnäbel 
in Hals und Brust; wütend schwingen sie sich auf, und die Flügel prasseln 
krachend nieder. Wildes Geklapper erfüllt die Luft. Ein tiefer Stich ver¬ 
wundet den einen, und die Kämpfer verschwinden in der Weite. Bald kommt 
der Kampf wieder zum Stehen und nähert sich von neuem dem Neste. Da 
beginnt das Weibchen im Neste zu klappern, gleichsam, um den Mann zur 
Ausdauer zu ermahnen. Dieser vernimmt den Ruf. Noch ein paar Streiche 
schwirren durch die Luft, noch einmal fahren die Schnäbel zusammen, und 
der Gegner stürzt zu Boden. Haus und Hof sind gesichert. 
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