Odysseus.
153
11. Odysseus und Penelope.
Jahrelang hatten die übermütigen Freier die edle Penelope durch
unerhörte Frechheit gekränkt und das Gut des Odysseus verpraßt. Nun
ereilte sie das Verderben, alle erlitten durch die Hand des mächtigen
Königs den Tod. Erst als dies geschehen war, erlaubte Odysseus der alten
Dienerin Eurykleia, der schlafenden Penelope die Botschaft von der Rückkehr
ihres Gemahls zu überbringen. Diese stieg zum Söller hinauf, um der
Herrin zu verkünden, daß der treue Gatte daheim sei. Eilig regten sich
ihre Kniee und Füße; sie trat ihr zu Häupten und sprach: „Wach aus,
Penelope, geliebtes Kind, daß du mit Angen schauest, wonach du Tag
für Tag verlangt! Odysseus ist gekommen und weilt im Hause, der spät
Heimgekehrte, und hat die stolzen Freier erlegt, die das Haus ihm ver¬
wüstet, das Gut verpraßt und den Sohn bedrängt haben." Ihr ant¬
wortete die sinnige Penelope: „Lieb Mütterchen, dich haben die Götter
bethört, welche auch Einsichtige thöricht und den Albernen klug zu machen
vermögen; sie müssen es dir angethan haben, da du sonst verständigen
Sinnes warst. Was spottest du mein in meiner tiefen Trauer mit
solchem Geschwätz und weckst mich aus dem süßen Schlummer, der mir
die lieben Wimpern bedeckte; so tief habe ich noch niemals geschlafen,
seit Odysseus nach dem unseligen Ilion, des Name vertilgt sei, aus¬
gezogen. Nun gehe hinab und zum Saale zurück; hätte mir eine andere
meiner Frauen solche Meldung gebracht und mich im Schlafe gestört,
so hätte ich sie hart angelassen und weggeschickt; dich schützt diesmal
dein Alter."
Und es antwortete die geliebte Amme Enrykleia: „Wie sollte ich
dein spotten, geliebtes Kind! Nein, wahrhaftig, Odysseus ist gekommen
und weilt im Hause, wie ich sage; der Fremde, den alle im Saale be¬
schimpft, war niemand anderes als er. Telemach wußte es längst, daß
er angekommen sei; aber klug hielt er des Vaters Vorhaben geheim,
um der übermütigen Männer Gewaltthat zu ahnden." So sprach sie;
da ergriff jene die Freude, sie sprang vom Lager auf, umarmte die Alte,
und Thränen entströmten ihr. Doch nochmals wurde sie irre an der
Nachricht und wollte mit eignen Augen schauen, was geschehen. Sie
stieg vom Söller herab und überschritt die steinerne Schwelle; Odysseus
gegenüber setzte sie sich in des Feuers Schein; der aber saß an der
hohen Säule, den Blick zu Boden gesenkt, und wartete, ob die untadlige
Gemahlin ihn anreden werde, da sie ihn nun mit den Augen schaute.
Doch saß sie lange stumm, und Staunen hatte ihr Herz befangen. Bald
meinte sie, ihn von Gesicht zu kennen, bald schien er ihr fremd, da ihn
schlechtes Gewand bedeckte. Erst als ihr Odysseus Wahrzeichen nannte,
die nur er und sie kannten, da erbebten ihr die Kniee und das liebe