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auch kein Verlangen danach. Selbst der Lenz und der Sommer blühten
für sie fast nur in den Blumen, die in vem Gärtchen hinterm Hause
wuchsen, in welchem sie mit Alfreb saß oder ihn in seinem kleinen Fahr⸗
stuhl fuhr. Sie unterrichtete den Bruder, als er älter ward, im Lesen
und Schreiben, sie sang ihm Lieder vor, erzählte Märchen und Ge—
schichten, und ein Freuden⸗ und Dankeslächeln auf dem schönen, blassen
Kindergesicht war ihr Lohn, ersetzte ihr aͤlle Vergnügungen und Zer⸗
streuungen, an welchen andere Mãdchenherzen sich freuen.
Einstmals stand das kleine Bett, welches so lange neben Susannas
Lager gestanden, leer; der kleine Knabe aber lag zum festen, langen
Schlaf gebettet neben seiner Mutter.
Susanna hatte ihren schwersten, bittersten Schmerz durchzukämpfen,
und lange währte es, ehe sie zur Ruhe kam. Oft erwachte sie des Nachts
aus ihrem Schlummer und meinte, von der lieben, klagenden Stimme
ihren Namen rufen zu hören. Doch endlich fand ihr stiller, ergebener
Sinn sich in den Verlust, und sie befahl den Liebling, dessen kurzen
Lebenstraum zu erheitern ihr bestimmt gewesen, in Gottes Hand.
Ihre Sorge und Liebe gehörte nun ganz dem Vater, der im Gefühl
des nahenden Alters und zuünehmender Schwäche sein Amt niedergelegt
hatte und pensioniert worden war. Wie wohl that ihm nun die lebe—
volle Pflege seiner Tochter, die seinen Abend verschönte, wie sie den
Morgen seines Kindes verschönt hatte. „Meine Diakonissin,“ nannte
sie der Vater, dankbar lächelnd, wenn ihre weiche Hand seine Kissen
glättete, ihm tausend Liebesdienste widmete, ihre sanfte Stimme zärtlich
zu ihm sprach, ihm vorlas oder ⸗sang, und ihr lieber Mund die Falten
von seiner Stirn küßte.
Herbert hatte inzwischen seine Studien vollendet und eine einträg—
liche Stellung erhalten. Durch Unachtsamkeit und Leichtsinn verscherzte
er dieselbe aber und ging verzweifelt, und ohne Abschied von Vaten und
Schwester zu nehmen, nach Amerika, um dort sein Fortkommen zu suchen.
Dieser Schlag traf das Lebensmark vdes Vaters; er erholte sich nicht
mehr. Mit unaussprechlicher Wehmut ruhte sein Auge oft auf Susannen,
die ihren eigenen Kummer verbarg, um den Vater nicht trauriger zu
machen. Er hatte in Herbert nach seinem Tode eine Stütze für seine
Tochter gesehen und deshalb den Tod ruhig erwartet.
Je größer Susannens Selbstverleugnung und Hingabe an des Vaters
Kranken⸗ und Sterbebelt war, um so bitterer und schwerer war der Ge—
danke für den Kranken, daß er seine Tochter hilflos zurücklassen mußte.
Er hatte kein Vermögen für sie ersparen können, und sie besaß leine
Talente, welche in der Welt Geld unb Ruhm erringen können. — Der
Vater konnte nichts thun, al⸗ sein Kind sterbend dem Versorger der
Waisen empfehlen, für dasselbe beten und es segnen.
WNach des Vaters Tode kam Susanna zum erstenmal der Gedanke
an sich selbst. Sie hatte sich ganz in ihrer Hingabe an andere vergessen
und übersehen. Eine ploͤhliche Stille entsetzte sie, eine nie gekannte
Leere gähnte sie an. Ihre Hände lagen zum erstenmal in ihrem Leben
müßig in ihrem Schoße, ihr Tagewert war zu Ende. Niemand war da,
Deutsche Jugend. VI.
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