Full text: Deutsche Dichter und Prosaiker (Teil 5, [Schülerbd.])

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4. Per. 2. Zeitr. Johann Heinrich Voß. 
An Goethe. 
Auch du, der sinnreich durch Athenes Schenkung, 
Sein Flügelroß, wenn's unfügsam sich bäumet 
Und Funken schnaubt, mit Kunst und Milde zäumet, 
Zum Hemmen niemals, nur zu freier Lenkung, 
Du hast, nicht abhold künstelnder Beschränkung, 
Zwei Vierling und zwei Dreiling uns gereimet? 
Wiewohl man hier Kernholz verhaut, hier leimet, 
Den Geist mit Stümmlung lähmend und Verrenkung? 
Laß, Freund, die Unsorm alter Truvaduren, 
Die einst vor Barbarn, halb galant, halb mystisch, 
Ableierten ihr klingendes Sonetto; 
Und lächle mit, wo äffische Naturen 
Mit rohem Sang und Klingklang asterchristisch 
Als Lumpenpilgrim' wallen nach Loretto. 
Der siebzigste Geburtstag. 
Auf die Postille gebückt, zur Seite des wärmenden Ofens 
Saß der redliche Tamm in dem Lehnstuhl, welcher mit Schnitzwerk 
Und braunnarbigem Jucht voll schwellender Haare geziert war, 
Tamm, seit vierzig Jahren in Stolp, dem gesegneten Freidorf, 
5 Organist, Schulmeister zugleich und ehrsamer Küster, 
Der fast allen im Dorf, bis auf wenige Greise der Vorzeit, 
Einst Taufwasser gereicht und Sitte gelehrt und Erkenntnis, 
Dann zur Trauung gespielt und hinweg schon manchen gesungen. 
Oft nun faltend die Händ' und oft mit lauterem Murmeln 
10 Las er die tröstenden Sprüch' und Ermahnungen. Aber allmählich 
Starrte sein Blick, und er sank in erquickenden Mittagsschlummer. 
Festlich prangte der Greis in gestreifter kalmankener Jacke; 
Und bei entglittener Brill' und silberfarbenem Haupthaar 
Lag auf dem Buche die Mütze von violettenem Sammet, 
15 Mit Fuchspelze verbrämt und geschmückt mit goldener Troddel. 
Denn er feierte heut den siebzigsten frohen Geburtstag, 
Froh des erlebeten Heils. Sein einziger Sohn Zacharias, 
Welcher als Kind aus dem Schemel geprediget, und von dem Pfarrer 
Ausersehn für die Kirche, mit Not vollendet die Laufbahn 
20 Durch die lateinische Schul' und die teuere Akademie durch, 
Der war jetzt einhellig erwähleter Pfarrer in Merlitz 
Und seit kurzem vermählt mit der wirtlichen Tochter des Vorjahrs. 
Fernher hatte der Sohn zur Verherrlichung seines Geburtstags 
Edlen Tobak mit der Fracht und stärkende Weine gesendet, 
25 Auch in dem Briese gelobt, er selbst und die freundliche Gattin, 
Hemmeten nicht Hohlweg' und verschneiete Gründe die Durchfahrt, 
Sicherlich kämen sie beide, das Fest mit dem Vater zu feiern 
Und zu empfahen den Segen von ihm und der würdigen Mutter.
	        
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