Full text: Deutsche Dichter und Prosaiker (Teil 5, [Schülerbd.])

486 4. Per. 3. Zeitr. N. (Niembsch Edler von Streh-) Lenau. — K. I. Simrock. 
An die Melancholie. 
1. Du geleitest mich durchs Leben, 
Sinnende Melancholie; 
Mag mein Stern sich strahlend heben, 
Mag er sinken, — weichest nie! 
2. Führst mich oft in Felsenklüfte, 
Wo der Adler einsam haust, 
Tannen starren in die Lüfte, 
Und der Waldstrom donnernd braust. 
3. Meiner Toten dann gedenk' ich, 
Wild hervor die Thräne bricht. 
Und an deinen Busen senk' ich 
Mein umnachtet Angesicht. 
Karl Joseph Simrock. 
(1802.) 
Drei Bitten. 
1. Da droben unbezwungen 
Saß König Gelimer; 
Doch engen Kreis geschlungen 
Hat schon der Feind umher. 
2. „Nock einmal möcht' ich schauen 
Des Lebens vollen Tag, 
Noch einmal mir vertrauen, 
Dann komme, was da mag! 
3. Aus, melde du, mein Ritter, 
Den Feinden mein Gesuch; 
Ein Brot und eine Zither, 
Dazu ein linnen Tuch." 
4. Da meldete der Ritter 
Den Feinden sein Gesuch: 
„Was will der mit der Zither, 
Was sollen Brot und Tuch?" — 
5. „Das Brot, das will er kosten. 
Seit ihn der Turm bedeckt 
Und seine Waffen rosten, 
Vergaß er, wie es schmeckt. 
6. Will trocknen mit dem Linnen 
Die alten Augen rot; 
Dort auf des Turmes Zinnen 
Sah er nur Angst und Not. 
7. Will in die Zither singen 
Den bittern Todesschmerz, 
Bis ihm die Saiten springen, 
Und bricht sein müdes Herz." 
8. Da gab man ihm die Zither, 
Gab Brot und Linnen gern, 
Und dankend schied der Ritter 
Und bracht' es seinem Herrn. 
9. Der sieht ihn freudig kommen: 
„Herbei, mein Saitenspiel! 
Ihr habt kein Lied vernommen, 
Seit unser Reich zerfiel. 
10. Ein Lied will ich erheben, 
Es ist ein schönes Lied! 
Der scheide von dem Leben, 
Von dem die Freiheit schied. 
11. Ihr trauten Freunde, kostet 
Das letzte Liebesmahl; 
Es hat zu lang' gerostet 
Der scharfgeschliffne Stahl. 
12. Verbindet neue Wunden, 
Wir stürzen in die Schlacht; 
In letzten Lebensstnnden 
Hab' ich dies Lied erdacht." 
Warnung vor dem Rhein. 
1. An den Rhein, an den Rhein, zieh 
nicht an den Rhein, 
Mein Sohn, ich rate dir gut; 
Da geht dir das Leben so lieblich ein, 
Da blüht dir zu freudig der Mut. 
2. Siehst die Mädchen so frank und die 
Männer so frei, 
Als wär' es ein adlig Geschlecht. 
Gleich bist du mit glühender Seele dabei; 
So dünkt es dich billig und recht. 
3. Und zu Schiffe, wie grüßen die Burgen 
so schön 
Und die Stadt mit dem ewigen Dom! 
In den Bergen, wie klimmst du zu schwin¬ 
delnden Höhn 
Und blickst hinab in den Strom. 
4. Und im Strome, da tauchet die Nix' 
ans dem Grund, 
Und hast du ihr Lächeln gesehn, 
Und sang dir die Lurlei mit bleichem Mund, 
Mein Sohn, so ist es geschehn. 
5. Dich bezaubert der Laut, dich bethört 
der Schein, 
Entzücken faßt dich und Graus. 
Nun singst du nur immer: „Am Rhein, 
am Rhein", 
Und kehrst nicht wieder nach Haus.
	        
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