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Der Baum, der hier am Wege steht,
Wem mag er Frucht erstatten?
Doch weil mein Weg vorübergeht,
So giebt er mir den Schatten.
Sie haben ihn hierhergesetzt
Wohl nicht zu meinen! Frommen -
Ich aber glaube, daß er jetzt
Sei eigens für mich gekommen.
Der Bach, der mir entgegenrauscht,
Kommt her, mich zu begrüßen,
Durch Reden, die er mit mir tauscht,
Den Gang mir zu versüßen.
Und wenn ich seiner müde bin,
Er wartet auf!nein Winken,
Gleich wendet er zur Rechten hin,
Und ich zieh' fort zur Linken.
Die Lüfte sind mir dienstbar auch,
Die mir im Rücken wehen,
Sie wollen doch mit ihrem Hauch
Mich fördern nur im Gehen.
Und die ins Angesicht mich küstt,
Sie will mir auch nicht schaden:
Es ist die Ferne, die mich grüßt,
Zu sich mich einzuladen.
Der Regen und der Sonnenschein
Sind meine zwei Gesellen,
Die, einer hinterm andern drein,
Abwechselnd ein sich stellen.
Der Regen löscht der Straße Staub,
Die Sonne macht sie trocken -
Daneben wollen Gras und Laub
Sie aus dem Boden locken.
Und spannt in ihrem Wechselspiel
Sich aus ein Regenbogen,
Komm' ich, entgegen meinem Ziel,
Darunter her gezogen.
Der Bogen ist für !nich gespannt,
Weil ich darunter walle -
Zn Trägern sind die Berg' ernannt,
Daß er auf mich nicht falle.
Und wo ein Dorf entgegentritt,
Da hör' ich Glocken läuten -
Sie meinen selber mich damit,
Was könnt' es sonst bedeuten?
Sie läuten etwa einer Braut,
Vielleicht auch einem Toten-
Ich aber deut' auf mich den Laut:
Ein Gruß wird mir geboten.
So zieh' ich inl Triumphgesang
Entlang die lauge Straße-
Und nie wird mir um etwas bang,
Das ich im Rücken lasse.
Wie eines hinter mir entweicht,
So kommt gleich her das andre -
Und nie hab' ich das End' erreicht
Der Welt, so weit ich wandre
145. Jahres- und Tageszeiten.
Johann Wolfgang von Goethe.
Dümmrnng senkte sich von oben,
Schon ist alle Nähe fern,
Doch zuerst emporgehoben
Holden Lichts der Abendstern!
Deutsches Lesebuch. 3. Aufl.
Alles schwankt ins Ungewisse,
Nebel schleichen in die Höh'-
Schwarzvertiefte Finsternisse
Wiederspiegelnd, ruht der See<
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