Full text: Deutsches Lesebuch für Mittel- und Fortbildungsanstalten und ähnliche Lehranstalten

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die kleine Kammer, in welcher sie des Nachts schlief, füllig. Zwar machte 
ihr diese Schuld nicht gerade großen Kummer; denn sie wohnte bei 
armen Leuten, die selbst den Mangel und die Not nur zu gut kannten, 
und die deshalb mit der noch ärmeren Alten Nachsicht hatten bis auf 
bessere Zeiten. Aber der Mann, von dem sie die Spielsachen und die 
bunten Bilder bezog, war, obwohl reich, doch harten Herzens. Er hatte 
gedroht, wenn Else die für ihn unbedeutende Schuld nicht zahlen würde, 
ihr gerichtlich die Bude zu verkaufen, sie selbst aber in den Schuldturm 
sperren zu lassen. 
So saß sie denn ganz sorgenvoll da, das Haupt gebeugt, die 
hageren Hände gefaltet. Draußen aber zwitscherte die Lerche recht fröh— 
lich, denn der Frühling war gekommen; aber ihr ward immer weher 
ums Herz, denn sie wünschte sich sehnlich dorthin, wo ihr braver Mann 
und ihre Kinder längst ruhten. 
Da kam ein Mann dahergeschlendert, der störte sie in ihren Be— 
trachtungen und Wünschen. Er war auch kein Jüngling mehr, denn sein 
Haar ergraute bereits; sonst war er aber noch ziemlich rüstig und kräftig. 
Was er war, das verriet seine Teerjacke und der breite, schwankende 
Gang, nämlich, daß er ein Seefahrer war. Er hatte die Arme über 
einander geschlagen und sah, wie es schien, befremdet und doch bekannt 
umher. 
Nachdem er nun jeden Stein am Thore, jeden Sitz und jedes 
Gebäude lange gemustert hatte, fiel sein Blick endlich auf die Bretter— 
bude und auf Frau Else. Da trat er näher und sprach: „Es hat sich 
doch manches in Danzig verändert! In dieser kleinen Bude saß einst 
eine muntere junge Frau, von der ich als Schulknabe manchen Bilder— 
bogen gekauft habe. Wo mag diese hingekommen sein?“ 
Die Alte lächelte wehmütig und entgegnete: „Lieber Herr, das 
kann doch niemand anders gewesen sein als ich selbst; ich sitze hier schon 
über fünfzig Jahre.“ 
Der Fremde fuhr mit der gebräunten Hand über die Stirn und 
rief: „Ja so, ich habe vergessen, daß auch ich gegen vierzig Jahre ab— 
wesend war. Die Zeit verändert viel; mancher meiner früheren Schul⸗ 
und Spielgenossen ist wohl schlafen gegangen, und die noch leben, werden 
den armen Matrosen nicht wieder erkennen, viele werden's auch nicht 
wollen. — Der Peter Braun, welcher früher in der Langgasse wohnte, 
ist nun auch wohl schon lange tot?“ 
„Selbst gekannt habe ich ihn nicht, aber ich habe viel von ihm 
erzählen hören. Er starb im Spittel!“ entgegnete Else. 
„Im Spittel?“ wiederholte der Unbekannte erschüttert. 
„Der Mann hat ein hartes Schicksal gehabt,“ fuhr die Alte fort; 
„ihm war es auch nicht an der Wiege gesungen, daß er so sterben
	        
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