Full text: Deutsches Lesebuch für Mittel- und Fortbildungsanstalten und ähnliche Lehranstalten

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Dankgebete aufging zu ihrem treuesten Freund, dem sie erst kurz vorher 
ihre Not geklagt, und in heiße Segenswünsche für den Retter, den er 
ihr gesandt hatte. Durch diese kleine Gabe war für jetzt beinahe ihre 
Not geendet. Der harte Gläubiger sollte den Thaler auf Abschlag er— 
halten; denn sie hoffte, daß er damit sich wohl einstweilen begnügen 
werde. Vorhin in ihrer Angst und Sorge war ihr Auge trocken geblieben, 
und jetzt — weinte sie. Das waren Freudenthränen, ein stummes und 
doch so beredtes Dankopfer ihrer Seele. 
Es war wohl noch nicht eine Stunde vergangen, da kehrte der 
Unbekannte zurück. Sein Gesicht war jetzt hoch gerötet, als sei es vom 
Trunke oder vom Zorne erhitzt. Er stürzte in gewaltiger Hast auf die Bude 
der alten Else los und schlug mit seiner starken Faust so derb auf ihre 
Waren ein, daß er mit diesem Schlage sogleich einen Nürnberger Heu— 
wagen samt den Rossen und ein ganzes Regiment bleierne Soldaten 
vernichtete. „Liebe Alte,“ rief er in ungezügelter Freude, „thu mir den 
Gefallen und wirf deinen ganzen Plunder auf die Straße, daß sich die 
Jungen daran freuen; du sollst es fortan nicht mehr nötig haben, hier 
in Sturm und Unwetter zu sitzen. Heisa! das Glück ist bei mir ein— 
gekehrt! wundervoll und unverhofft. Vierzig Jahre habe ich diesem Glücke 
auf allen Meeren und in allen Zonen nachgejagt: es wandte mir überall 
den Rücken; siehe, da finde ich es plötzlich in der Heimat an dem Grabe 
meines Vaters. — Es war eine bittere trübe Empfindung, als ich das 
Grab meines Vaters erblickte, so einsam, so wüst und so verfallen! Ach, 
ich war von dem guten Vater ausgezogen mit stolzen Hoffnungen. Reich 
wollte ich wiederkehren und sein im Alter pflegen. Es war aber alles 
anders gekommen; er ruhte in der Erde, und ich war ärmer zurück— 
gekehrt, als ich ausgegangen war. Da hob ich das Bild des Großvaters, 
für das ich dir meinen letzten Thaler gegeben, in die Höhe, um mich 
wenigstens an den gutmütigen Zügen zu erfreuen, die mich wilden Buben 
so oft angelächelt hatten. Aber unter meiner derben Faust, die Sonnen— 
brand, Eiseskälte und schwere Arbeit abgehärtet haben, brach der morsche 
Rahmen zusammen und — aus der Rückseite des Bildes fielen englische 
Staatspapiere heraus, deren Wert sich durch die Jahre und durch den 
fortlaufenden Zins verdoppelt hat. Der Großvater, der in seinen letzten 
Lebenstagen ängstlicher um Hab und Gut geworden, hatte wahrscheinlich 
dort all seine Schätze verborgen, ohne bei seinem so schnellen Tode 
meinem Vater darüber Nachricht geben zu können. In einem einzigen 
Augenblicke bin ich nun ein reicher Mann geworden! Jene Papiere sind 
mein rechtmäßiges Eigentum; denn bei diesem Schatze lag zugleich ein 
Testament, das mich im Fall des Ablebens meines Vaters zum Erben 
des Großvaters ernennt. Jetzt kaufe ich unser Haus in der Langgasse 
zurück, und in dem Prunksaale soll wieder wie in früheren Zeiten das
	        
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