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3. Goldner.
(Es sind wohl zweitausend Jahre oder noch länger, da hat
in einem dichten Walde ein armer Hirt gelebt Der hatte sich
ein bretternes Haus mitten im Walde gebaut; darin wohnte
er mit seinem Weibe und seinen sechs Rindern, die waren alle
Rnaben. Kn dem Hause war ein Ziehbrunnen und ein Gärt-
lein, und wenn der Vater das Vieh hütete so gingen die
Rinder hinaus und brachten ihm zu Mittag einen kühlen
Trunk aus dem Brunnen oder ein Gericht aus dem Gärtlein.
Den jüngsten der Rnaben riefen die Litern nur „Goldner";
denn seine haare waren wie Gold, und obgleich der jüngste,
war er doch der stärkste von allen und der größte. So oft die
Rinder hinausgingen, ging Goldner mit einem Baumzweige
voran, anders wollte keines gehen; denn jedes fürchtete sich,
zuerst auf ein Abenteuer zu stoßen. Ging aber Goldner voran,
so folgten sie freudig, eins hinter dem andern, nach durch das
dunkelste Dickicht, und wenn auch schon der Mond über dem
Gebirge stand. Lines Abends ergötzten sich die Rnaben auf
dem Rückwege vom Vater mit Spielen im Walde, und da
hatte sich Goldner vor allen so sehr im Spielen ereifert, daß
er so hell aussah wie das Abendrot. „Laßt uns zurückgehen!"
sprach der älteste, „es scheint dunkel zu werden." „Seht da,
der Mond!" sprach der zweite. Da kam es licht zwischen den
dunkeln Tannen hervor, und eine Frauengestalt wie der Mond
setzte sich auf einen der moosigen Steine, spann mit einer
kristallenen Spindel einen lichten Faden in die Nacht hinaus,
nickte mit dem Haupte gegen Goldner und sang:
„Der weiße Zink, die goldne Ros',
die Rönigskron' im Meeresschoß."
Sie hätte wohl noch weiter gesungen; aber ihr Faden
riß, und sie erlosch wie ein Licht. Nun war es ganz Nacht.
Die Rinder faßte ein Grausen; sie sprangen mit kläglichem
Geschrei, das eine dahin, das andere dorthin, über Felsen und
Rlüfte, und verlor eins das andere.
Wohl viele Tage und Nächte irrte Goldner in dem dicken
Walde umher, fand aber weder einen seiner Brüder, noch die
Hütte seines Vaters, noch sonst die Spur eines Menschen; denn