Auch die zeitweilige Trägheit des Tschuktschen, seine Unsauberkeit, seine
Unmäßigkeit erscheinen unter dem lähmenden Klima der Arktik verzeihlicher,
um nicht zu sagen natürlich. Wie er den Tabak liebt und für ein paar-
getrocknete Blätter dieses Krautes unnachdenklich irgend ein mühsames
Werk seiner Hände hingibt, nur um sich ein kurzes Vergessen seiner Not
zu verschaffen, ward schon angedeutet. Noch leidenschaftlicher aber begehrt
er den Alkohol. Um einige Schalen des „wildmachenden Wassers"
würden dem Tschuktschen alle seine Schätze feil sein, und wenn das
verhängnisvolle Geschenk Europas hier nicht gleich zerstörend wirkt als
unter den Rothäuten, so mag auch dies zum Teil in dem Charakter des
Klimas begründet sein.
15. Noch aber bleibt ein Gebrauch zu erwähnen, der uns mit
Grausen erfüllt, aber zugleich Zeugnis gibt, wie oft ein menschlicher
Trieb zum Unmenschlichen führt; dies ist die Tötung der Schwachen
und Kranken. Sobald der Tschuktsche altert und gebrechlich nur noch
von der Arbeit der Rüstigen sein Leben zu fristen vermag, wird ein
Familienrat gehalten, dem der Greis selbst beiwohnt, und der gewöhnlich
mit dessen Erdrosselung endet. Meist fordert er selbst den Tod. Denn
der Tschuktsche fürchtet die Qual eines langsamen Hinsiechens; ja, das
natürliche Sterben dünkt ihm unnatürlich und unmännlich, und so meinen
denn die Angehörigen, zu gewaltsamer Tötung, gleichsam wie zu einem
Liebeswerke, nicht bloß berechtigt, sondern verpflichtet zu sein. Dasselbe
geschieht bei unheilbaren Krankheiten, doch auch hier unter Zustimmung
des Opfers und nach dem Ausspruche der Priester. Mit Entsetzen
wendet sich der Europäer von den Barbaren, und dennoch wird ein
gerechtes Urteil einräumen, daß eine solche Grausamkeit, minder ver¬
werflich als jene lykurgischeZ, nicht sowohl ein Verbrechen als eine
Verirrung ist.
16. Dafür bürgt auch der sonstige Charakter des Tschuktschen, vor
allem seine Heilighaltung der Ehe. Zwar kommen dem Btanne größere
Rechte zu als dem Weibe, aber die Liebe beider zu einander besteht jede
Probe... Gleich groß ist die Liebe zu den Kindern wie die Liebe der
Kinder zu den Eltern, und hieraus ganz besonders mag sich erklären,
warum dieser Stamm unter all den Entbehrungen und Unbilden des
Klimas sich forterhält und mehrt, während die Polynesiers unter dem
gesegnetsten Himmel gerade durch Auflösung der Familienbande ihren
Untergang herbeiführen. Aber nicht ans die Familie allein ist ihre Liebe
beschränkt. Vielmehr leben alle Glieder dieses Stammes in erzväterlicher
Eintracht, in jedem Augenblick zu jeder Hilfe bereit. Wer darauf hin¬
weisen wollte, daß schon die gemeinsame Not und Entbehrung ein solches
Einvernehmen fordere, und daß das Gewerbe des Fischers und Hirten
friedlichen Sinn erwecke, den würde man an die blutigen Fehden anderer,
ff Nach den Gesetzen des Lykurg, die dieser für Sparta gegeben
hatte, wurde jedes neugeborene Kind erst besichtigt und, wenn es zu schwach
und kränklich befunden wurde, dem Verhungern ausgesetzt, „weil ja das
Leben eines gebrechlichen Menschen weder ihm selbst, noch dem Vaterlande
frommen könne." — 2) Polynesien (Vielinselland), die Inseln des stillen
Ozeans.