172
Viehscharen, mit Rädergerassel und Sensenklang, mit Taubengeflatter
und Lerchengeschwirr waren einst nichts anderes, als ein weites,
sumpfiges Rohrfeld oder gar ödes, kahles Watt ohne allen Pflanzen¬
wuchs, und sie würden sofort wieder in den alten, wüsten Zustand
übergehen, wenn einmal die Deiche verschwänden.
In diesen Deichen, die sich gleich mächtigen Festungswällen in
der ganzen Länge der Marschen schützend vor ihnen herziehen,
sehen wir die erste aller Bedingungen des Daseins jener reichen,
blühenden Ufergebiete; von ihrer Erhaltung hängt das Wohl und
Wehe vieler Tausende, ja das Dasein ganzer Landstriche ab.
Um aber ganz die hohe Wichtigkeit und Bedeutung der Deiche
zu begreifen, muß man einmal eine gewaltige Sturmflut mit angesehen
haben; denn wer ein solches Ereignis nie erlebte, wird sich schwerlich
von der Größe und Schrecklichkeit derselben eine Vorstellung machen
können. Die rechte Zeit der Sturmfluten ist von Oktober bis zum April.
Wenn eine Zeitlang ein anhaltender Westwind weht, der große
Wassermassen in den Kanal treibt und, sich nach Nordwesten oder
Norden umsetzend, diese nun gegen die Küsten und weit in die
Flüsse hinaufpeitscht, wenn sich dazu noch eine Springflut gesellt:
dann steigen die wilden Wasser oft zu einer Höhe und Furchtbar¬
keit, die einem das Herz erbeben macht.
Aber ruhig erwartet sie der Marschbewohner; weiß er doch, daß
seine Deiche hoch und stark genug sind, ihm sicheren Schutz zu gewähren.
Höchstens mag ihm ein trüber Gedanke an die Mühen und Kosten
der Deicharbeit kommen, die wenige Stunden herbeiführen können.
So steht er, unbekümmert um den heulenden Sturm, auf der Kappe
des Deichs und schaut in ernstem Sinnen auf die wallenden Fluten, von
denen er genau weiß, wann sie gegen den Deich heranströmen werden.
Noch ist das Vorland trocken, noch sind die Fluten in ihrem
Bette; doch man sieht schon, wie sie toben, wie sie sich bäumen und
die weißen Zähne zeigen, als harrten sie voll Ungeduld der Stunde,
wo eine höhere Macht ihnen das Zeichen zum Angriffe gibt.
Jetzt nahen sie. Lauter und lauter wird das Brausen und
Donnern. Sie erreichen das Vorland; in kurzer Zeit ist es bedeckt
und beut nun, soweit das Auge reicht, nur eine einzige, wilde Wasser¬
wüste, deren Schaumkämme glänzendweiß gegen das trübe Grau
der Wogen abstechen. Kein Schiff ist weit und breit zu erspähen,
alle sind sie vor dem Sturme in sichere Buchten geflüchtet. Nur
hier und dort kündet ein einsamer Weidenbaum, der mit seinem