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Familienleben.
144. Die geflickte Hose. Ir. W. Foersler.
n unserer Schule war ein Knabe von armen Eltern, der trug
eine Hose, die war so vielfarbig geflickt, daß wir alle unsern
tollen Spaß daran hatten. Und immer, wenn man glaubte,
jetzt sei es zu Ende, jetzt komme endlich eine neue Hose —
dann saß plötzlich wieder ein großer, brauner Flicken drauf,
und alle die kleinen Flicken ringsumher schienen mit neuem Mute in
die Zukunft zu sehen — so wie in einem verzweifelten Volke, wenn
plötzlich ein großer und tapferer Staatsmann die Zügel ergreift. Nach
der Heimkehr von den Ferien war es unser festlichstes Vergnügen im
Schulhof, Müllers Hose zu besichtigen, und großes Gelächter hörte man
erschallen, wenn sie inzwischen noch bunter geworden war.
Wie schäme ich mich heute dieses Gelächters! Es war ja nicht bös
gemeint — aber so unendlich dumm und gedankenlos. Wir sahen nur
die bunten Flicken, aber nicht das, wovon sie erzählten: Eine ganze
Welt von sorgender Mutterliebe, durchwachte Nachtstunden und gewiß
auch viele Tränen darüber, daß die ganze mühsame Flickerei doch nur
etwas zustande brachte, worüber der Sohn in der Schule ausgelacht
wurde! Mit welcher ärmlichen Geldsumme mußte die Mutter wohl den
ganzen Haushalt bestreiten, und wie ängstlich mag sie genäht haben,
damit die Hose noch ins neue Jahr hinein halte! Wieviel tausendmal
mehr wert war diese Hose als das schönste und modernste englische Bein—
kleid mit seinen tadellosen Falten! Habt ihr einmal davon gehört, daß
man heute oft Hunderttausende von Mark bezahlt für Gemälde von
alten Meistern, die oft noch gar nicht richtig zeichnen konnten, aber dafür
so viel Liebe und Andacht in ihre Bilder legten, daß man noch heute
nach vielen Jahrhunderten ganz warm und innig davon berührt wird?
Nun — Müllers geflickte Hose war auch so ein Kunstwerk, und ich würde
heute viel Geld dafür geben, wenn sie zum Verkauf ausgeboten würde
— und an der Tafel würde ich sie aufhängen wie eine Wandkarte und
euch mit dem Kartenstock die wunderbare Findigkeit der Mutterliebe
zeigen: Wieviel Nachdenken, wieviel Fürsorge da hineingearbeitet ist in
dieses ärmliche Stück Zeug — so viel, daß es selbst der erste Schneider
von Paris nicht nachmachen könnte, sondern ausrufen müßte: So viel
Geduld hat kein Schneider und keine Maschine, das kann nur eine
Mutter!
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