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vil. Bilder aus der deutschen Sage
und Geschichte.
99. Die Sage von Siegfried.
In Worms am Rhein herrschte der Burgunderkönig
Günther, umgeben von edlen Necken. Das höchste Kleinod der
Königsburg aber war seine schöne und tugendhafte Schwester
Kriemhilde. Ihr träumte einst „in der Tugend, der sie pflag,
wie sie einen wilden Falken zöge manchen Tag". Zu ihrem größten
Leide wurde ihr dieser schöne Vogel von zwei Aaren geraubt. „Der
Falke, den du zogest," deutete ihre Mutter das Traumgesicht, „das
ist ein edler Mann, ihn wolle Gott behüten, sonst ist es bald um
ihn getan." Doch nur zu schnell sollte das angekündigte Leid über
die holde Königstochter hereinbrechen. „Der schönste und frischeste,
der freudigste und herrlichste der Heldenjünglinge", Siegfried
aus kanten in den Niederlanden, warb um ihre Hand.
Freundlich wurde der junge Held, der die Nibelungen be¬
zwungen, ihren reichen Schatz erbeutet, die Tarnkappe gewonnen
und den Drachen getötet hatte, von den Burgunden empfangen.
Mit Siegfrieds Hilfe besiegte Günther die Könige der Sachsen
und Dänen. Zur Feier des Sieges wurde am Pfingsttage ein
glänzendes Fest veranstaltet. Erst hier bekam Siegfried die an¬
mutige Jungfrau zu sehen. Sie erschien ihm wie das aus trüben
Wolken hervortretende Morgenrot, wie der lichte Vollmond. Aber
Günther versprach dem jungen Königssohne die Hand seiner
Schwester nur unter der Bedingung, daß er ihm im Wettkampfe
B r u n h i l d e, die schöne Königin von I s e n l a n d , ge¬
winnen helfe. Mit großem Gefolge wurde die Fahrt nach dem
Jsensteine unternommen. In die unsichtbar machende Tarnkappe
gehüllt, kämpfte Siegfried für den Burgunderkönig, und Brun¬
hilde ward in drei Wettkämpfen besiegt. Mit großer Pracht wurde
hierauf zu Worms eine Doppelhochzeit gefeiert: Günther vermählte
sich mit Brunhilde und Siegfried mit Kriemhilde. Vierzehn Tage
dauerten die Festlichkeiten. Fröhlich kehrte Siegfried daraus heim
nach den Niederlanden, übernahm von seinem Vater die Regierung
und lebte zehn Jahre in Zufriedenheit und Glück.
Da begaben sich einst Siegfried und Kriemhilde, einer Ein¬
ladung folgend, zum Feste der Sonnenwende nach Worms. Hier
gerieten die beiden Königinnen in Streit. Dabei verriet Kriem¬
hilde der stolzen Brunhilde, daß nicht Günther, sondern Siegfried
sie einst bezwungen habe. Tief gekränkt in ihrer Ehre, sann nun
die Burgunderkönigin auf Rache gegen Siegfried, den sie bisher
für einen Dienstmann Günthers gehalten hatte. Der grimmige