Müller: Der Glockenguß zu Breslau. 371
werden pflegte, allein da eben diese beiden Glocken seit dieser Zeit bei
dieser Gelegenheit wechselweise geläutet zn werden Pflegen, so bezieht sich
wohl diese Notiz auf sie. Die Volkssage datiert jedoch die Anwendung
der Glocke zu diesem Zwecke weiter zurück, bis zu dem Jahre ihres Gusses
1386." (I. G. Th. Grässe.) Die Sage lautet nach Grimm:
„Als die Glocke zu St. Maria Magdalena in Breslau gegossen
werden sollte und alles dazu fast fertig war, ging der Gießer zuvor zum
Essen, verbot aber dem Lehrjungen bei Leib und Leben, den Hahn am
Schmelzkessel anzurühren. Der Lehrling aber war vorwitzig und neu¬
gierig, wie das glühende Metall doch aussehen möge, und indem er so
den Hahn bewegte und anregte, fuhr er ihm wider Willen ganz heraus,
und das Metall rann und rann in die zubereitete Form. Höchst bestürzt
weiß sich der arme Junge gar nicht zu helfen; endlich wagt er's doch
und geht weinend in die Stube und bekennt es seinem Meister, den er
um Gotteswillen um Verzeihung bittet. Der Meister aber wird vom
Zorn ergriffen, zieht das Schwert und ersticht den Jungen auf der Stelle.
Dann eilt er hinaus, will sehen, was noch am Werke zu retten sei, und
räumt nach der Verkühlung ab. Als er abgeräumt hatte, siehe, so war
die ganze Glocke trefflich wohl ausgegossen und ohne Fehl; voll Freude
kehrt der Meister in die Stube zurück und sah nun erst, was für Übles
er getan hatte. Der Lehrling war verblichen, der Meister wurde ein¬
gezogen und von den Richtern zum Schwerte verurteilt. Jnmittels war
auch die Glocke aufgezogen worden, da bat auch der Glockengießer flehent¬
lich: ob sie nicht noch geläutet werden dürfte, er möchte ihre Resonanz
wohl auch noch hören, da er sie doch zugerichtet hatte, wenn er die Ehr'
vor seinem letzten End' noch haben könnte. Die Obrigkeit ließ ihm will¬
fahren, und seit der Zeit wird mit dieser Glocke allen armen Sündern,
wenn sie vom Rathaus heruntergekommen, geläutet. Die Glocke ist so
schwer, daß, wenn man fünfzig Schläge getan hat, sie andere fünfzig
von sich selbst gehet."
II. Erläuterung. Str. 2. „Gelb und weiß" bezieht sich auf die beiden
Metalle, Zinn und Kupfer, welche die Glockenspeise bildeten. — Str. 4.
„Aller Glocken Krone", d. h. die schönste nach Form und Klang, die vor¬
trefflichste aller Glocken. Wie die Krone der schönste Schmuck auf dem
Haupte der Könige ist, so ist diese Glocke die schönste und vollkommenste
aller Glocken. — Str. 7. Die „Speise" s. Str. 2 Glockenspeise. — Str. 15.
„Die kluge Rechte" wird die Hand genannt, weil sie so geschickt war int
Glockengießen. — Str. 16. „Sein selber nicht bewußt", d. h. er war
ohne alle Besinnung, wußte nicht, was er getan und was er noch tat. —
Str. 18. „Abzuräumen", d. h. die Lehmform, den Mantel, zu entfernen.
„Makel" ist ein entstellender, schändender Fleck. — Str. 21. „Todes¬
urtel", alter Ausdruck für Urteil, den die Poeten noch gern gebrauchen. —
Str. 22. „Gnadenschmaus". Es war früher Gebrauch, daß die zum Tode
Verurteilten kurz vor ihrer Hinrichtung noch ein reiches, leckeres Mahl
(Schmaus), welches sie selbst bestimmen konnten, empfingen; dieses Mahl
nannte man Gnadenschmaus, auch Henkersmahl.
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