402
III. Lyrische Gedichte.
2. Die Fenster auf! Die Herzen auf!
Geschwinde, geschwinde!
Er spürt den Frühling vor dem
Tor,
der will ihn zupfen bei dem Ohr,
ihn zausen an dem weißen Bart
nach solcher wilden Buben 2irt6);
geschwinde, geschwinde!
3. Die Fenster auf! Die Herzen auf!
Geschwinde, geschwinde!
Der Frühling pocht und klopft ja
schon.
Horcht, horcht! es ist sein lieber
Ton;
er pocht und klopfet, was er kann,
mit kleinen Blütenknospen an7);
geschwinde, geschwinde!
4. Die Fenster auf! Die Herzen auf!
Geschwinde, geschwinde!
Und wenn ihr noch nicht öffnen
wollt,
er hat viel Dienerschaft im Sold 8),
die ruft er sich zur Hilfe her
lind pocht und klopfet immer mehr;
geschwinde, geschwinde!
5. Die Fenster auf! Die Herzell auf!
Geschwinde, geschwinde!
Es kommt der Junker Morgen¬
wind d),
ein pausebackig, rotes Kind,
und bläst, daß alles klingt und klirrt,
bis seinem Herrn geöffnet wird;
geschwinde, geschwinde!
6. Die Fenster auf! Die Herzen auf!
Geschwinde, geschwinde!
Es kommt der Ritter Sonnen¬
schein 10),
der bricht mit goldnen Lanzen ein!
Der sanfte Schmeichler Blüten¬
hauch n)
schleicht durch die engsten Ritzen auch;
geschtvinde, geschwinde!
7. Die Fenster auf! Die Herzen auf!
Geschwinde, geschwinde!
Zum Angriff schlägt die Nachti¬
gall^),
und horch und horch, ein Wider¬
hall^),
ein Widerhall aus meiner Brust!
Herein, herein, du Frühlingslust;
geschwinde, geschwinde!
I. Einführung. Der Dichter Wilh. Müller ist durch die Vorboten
des nahenden Frühlings froh bewegt und fordert uns alle aus, in seinen
Jubelton mit einzustimmen. Er stellt den Winter dar als einen Greis
in einem großen Hause mit Fenstern, Türen und Toren. Das Haus
ist unsre Heimat, find unsre Wintermonate; denn der Winter zieht, luic
die übrigen Jahreszeiten, rings um den Erdball herum. Stellen lvir
uns darum im Geiste vor das große Eishaus des Winters und hören
die Mahnung des vom Frühlinge begeisterten Dichters mit an! Sieben¬
mal ruft er uns zu: „Die Fenster auf! die Herzen aus!" Hört seinen
Ruf! (Vortrag.)
II. Erläuterungen. 1. Alt wird der Winter genannt, weil er so
lange gewährt hat und nun von uns scheiden will. 2. Er trippelt,
d. i. er bewegt sich mit kleinen, unruhigen Schritten ängstlich durch das
Haus, hier auf unsrer heimatlichen Erde. 3. Er windet sich bang,
er ächzt, er stöhnt, er klagt; denn er fühlt an den Vorboten des Lenzes,
daß sein Ende nahe ist. 4. Er kramt, er packt zusammen seinen Wust
— seine traurigen Überreste: unreinen, schmutzigen Schnee, graues, mür¬
bes Eis usw. 5. Und da wir seiner längst überdrüssig sind, rufen wir ihm
zu: „Geschwinde, geschwinde!" 6. Der Winter ist ein lebensmüder Greis,
der Frühling ein wilder Bube = eilt ausgelassener Junge. Beide
kämpfen um die Herrschaft. Der Winter spürt den Frühling vor dem
Tor ^ in großer Nähe. Er spürt ihn an seiner dahinschwindenden
Macht und an der zunehmenden Kraft des Frühlings, an dessen Vor¬
boten, dem Frühlingswehen und Frühlingsbrausen. Darum ist's ihm