Full text: Aus deutschen Lesebüchern (Bd. 2, [Schülerbd.])

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III. Lyrische Gedichte. 
2. Die Fenster auf! Die Herzen auf! 
Geschwinde, geschwinde! 
Er spürt den Frühling vor dem 
Tor, 
der will ihn zupfen bei dem Ohr, 
ihn zausen an dem weißen Bart 
nach solcher wilden Buben 2irt6); 
geschwinde, geschwinde! 
3. Die Fenster auf! Die Herzen auf! 
Geschwinde, geschwinde! 
Der Frühling pocht und klopft ja 
schon. 
Horcht, horcht! es ist sein lieber 
Ton; 
er pocht und klopfet, was er kann, 
mit kleinen Blütenknospen an7); 
geschwinde, geschwinde! 
4. Die Fenster auf! Die Herzen auf! 
Geschwinde, geschwinde! 
Und wenn ihr noch nicht öffnen 
wollt, 
er hat viel Dienerschaft im Sold 8), 
die ruft er sich zur Hilfe her 
lind pocht und klopfet immer mehr; 
geschwinde, geschwinde! 
5. Die Fenster auf! Die Herzell auf! 
Geschwinde, geschwinde! 
Es kommt der Junker Morgen¬ 
wind d), 
ein pausebackig, rotes Kind, 
und bläst, daß alles klingt und klirrt, 
bis seinem Herrn geöffnet wird; 
geschwinde, geschwinde! 
6. Die Fenster auf! Die Herzen auf! 
Geschwinde, geschwinde! 
Es kommt der Ritter Sonnen¬ 
schein 10), 
der bricht mit goldnen Lanzen ein! 
Der sanfte Schmeichler Blüten¬ 
hauch n) 
schleicht durch die engsten Ritzen auch; 
geschtvinde, geschwinde! 
7. Die Fenster auf! Die Herzen auf! 
Geschwinde, geschwinde! 
Zum Angriff schlägt die Nachti¬ 
gall^), 
und horch und horch, ein Wider¬ 
hall^), 
ein Widerhall aus meiner Brust! 
Herein, herein, du Frühlingslust; 
geschwinde, geschwinde! 
I. Einführung. Der Dichter Wilh. Müller ist durch die Vorboten 
des nahenden Frühlings froh bewegt und fordert uns alle aus, in seinen 
Jubelton mit einzustimmen. Er stellt den Winter dar als einen Greis 
in einem großen Hause mit Fenstern, Türen und Toren. Das Haus 
ist unsre Heimat, find unsre Wintermonate; denn der Winter zieht, luic 
die übrigen Jahreszeiten, rings um den Erdball herum. Stellen lvir 
uns darum im Geiste vor das große Eishaus des Winters und hören 
die Mahnung des vom Frühlinge begeisterten Dichters mit an! Sieben¬ 
mal ruft er uns zu: „Die Fenster auf! die Herzen aus!" Hört seinen 
Ruf! (Vortrag.) 
II. Erläuterungen. 1. Alt wird der Winter genannt, weil er so 
lange gewährt hat und nun von uns scheiden will. 2. Er trippelt, 
d. i. er bewegt sich mit kleinen, unruhigen Schritten ängstlich durch das 
Haus, hier auf unsrer heimatlichen Erde. 3. Er windet sich bang, 
er ächzt, er stöhnt, er klagt; denn er fühlt an den Vorboten des Lenzes, 
daß sein Ende nahe ist. 4. Er kramt, er packt zusammen seinen Wust 
— seine traurigen Überreste: unreinen, schmutzigen Schnee, graues, mür¬ 
bes Eis usw. 5. Und da wir seiner längst überdrüssig sind, rufen wir ihm 
zu: „Geschwinde, geschwinde!" 6. Der Winter ist ein lebensmüder Greis, 
der Frühling ein wilder Bube = eilt ausgelassener Junge. Beide 
kämpfen um die Herrschaft. Der Winter spürt den Frühling vor dem 
Tor ^ in großer Nähe. Er spürt ihn an seiner dahinschwindenden 
Macht und an der zunehmenden Kraft des Frühlings, an dessen Vor¬ 
boten, dem Frühlingswehen und Frühlingsbrausen. Darum ist's ihm
	        
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