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Angesicht sehen? Wohl wahr! aber ich wäre doch auf einmal ein reicher
Mensch, könnte schöne Kleider tragen, hälte alle Tage vollauf zu essen und
zu trinken. Und wenn ich nun entdeckt würde! Aber wie könnt' ich
entdeckt werden? es sieht's ja niemand. Niemand? Sieht denn aber
Gott es nicht, der an allen Orten zugegen ist? Kannst du jemals wieder
zu ihm beten, wenn du den Diebstahl begangen haben wirft? würdest du
wohl ruhig sterben können?“ Bei diesen Worten überlief ihn ein eiskalter
Schauer. „Nein,“ sagte er, indem er die Diamanten wieder hinwarf, „lieber
arm und ein gut Gewissen als reich und ein Bösewicht!“ und mit diesen
Worten eilte er auf demselben Wege zurück, auf dem er gekommen war.
Die Prinzessin, deren Schlafgemach das Nebenzimmer war, hatte noch
gewacht, hatte alles mit angehört und den Knaben selbst beim Mondscheine
erkannt. Sie ließ ihn am folgenden Tage zu sich kommen. „Höre, Kleiner,“
sagte sie zu ihm, da er zu ihr ins Zimmer trat, „warum nahmst du deunn
gestern die Uhr und die Diamanten nicht? Ich habe alles gehört,“ fuhr
die Prinzessin fort; „danke Gott, mein Sohn, daß er dir half, der Versuchung
zu widerstehen, und bemühe dich ferner, deine Tugend zu erhalten. Von
nun an sollst du bei mir bleiben; ich will dich nähren und kleiden lassen.
Aber ich will noch mehr für dich thun, ich will dich ordentlich unterrichten
und erziehen lassen, damit dir künftig auch nicht einmal der Gedanke an
eine solche Übelthat einfallen möge.“ Dem Knaben stürzten heiße Thränen
aus den Augen; er wollte danken, aber er konnte nicht; er konnte nur schluchzen.
Die Prinzessin hielt, was sie versprochen hatte. Der Knabe wurde gut
erzogen, und seine Wohlthäterin hatte die Freude, ihn zu einem braven,
frommen und geschickten Manne aufwachsen zu sehen.
Joachim Heinrich Campe.
206. Otto mit dem Barte.
Kaiser Otto der Große wurde in allen Landen gefürchtet; er
war strenge und ohne Milde, trug einen schönen roten Bart; was
er bei diesem Barte schwur, machte er wahr und unabwendlich.
Nun geschah es, daß er zu Babenberg eine prächtige Vlslin⸗
hielt, * welcher geistliche und weltliche Fürsten des Reiches in
großek Zahl kommen mußten. Ostermorgens zog der Kaiser mit
allen diesen Fürsten in das Münster, um die feierliche Messe zu
hören, unterdessen in der Burg zu dem Gastmahl die Tische bereitet
wurden; man legte Brot und sehte schöne Trinkgefäße darauf. An
des Kaisers Hofe diente aber dazumal auch ein edler und wonne—
samer Knabe, sein Vater war Herzog in Schwaben und hatte nur
diesen einzigen Erben. Dieser schöͤne Jüngling kam von ungefähr
vor die Tische gegangen, griff nach einem linden Brot mit seinen
zarten, weißen Händen, nahm es auf und wollte essen, wie alle
Kinder sind, die gerne in hübsche Sachen beißen, wonach ihnen der
Wille steht. Wie er nun einen Teil des weißen Brotes abbrach,
ging da mit seinem Stabe des Kaisers Truchseß, welcher die
sicht über die Tafel haben sollte; der schlug zornig den Knaben aufs
Haupt; so hart und ungefüge, daß ihm Haar und Haupt blutig
ward. Das Kind fiel nieder und weinte heiße Thränen, daß es der