Full text: [[2] = Mittelstufe, [Schülerbd.]] ([[2] = Mittelstufe, [Schülerband]])

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Angesicht sehen? Wohl wahr! aber ich wäre doch auf einmal ein reicher 
Mensch, könnte schöne Kleider tragen, hälte alle Tage vollauf zu essen und 
zu trinken. Und wenn ich nun entdeckt würde! Aber wie könnt' ich 
entdeckt werden? es sieht's ja niemand. Niemand? Sieht denn aber 
Gott es nicht, der an allen Orten zugegen ist? Kannst du jemals wieder 
zu ihm beten, wenn du den Diebstahl begangen haben wirft? würdest du 
wohl ruhig sterben können?“ Bei diesen Worten überlief ihn ein eiskalter 
Schauer. „Nein,“ sagte er, indem er die Diamanten wieder hinwarf, „lieber 
arm und ein gut Gewissen als reich und ein Bösewicht!“ und mit diesen 
Worten eilte er auf demselben Wege zurück, auf dem er gekommen war. 
Die Prinzessin, deren Schlafgemach das Nebenzimmer war, hatte noch 
gewacht, hatte alles mit angehört und den Knaben selbst beim Mondscheine 
erkannt. Sie ließ ihn am folgenden Tage zu sich kommen. „Höre, Kleiner,“ 
sagte sie zu ihm, da er zu ihr ins Zimmer trat, „warum nahmst du deunn 
gestern die Uhr und die Diamanten nicht? Ich habe alles gehört,“ fuhr 
die Prinzessin fort; „danke Gott, mein Sohn, daß er dir half, der Versuchung 
zu widerstehen, und bemühe dich ferner, deine Tugend zu erhalten. Von 
nun an sollst du bei mir bleiben; ich will dich nähren und kleiden lassen. 
Aber ich will noch mehr für dich thun, ich will dich ordentlich unterrichten 
und erziehen lassen, damit dir künftig auch nicht einmal der Gedanke an 
eine solche Übelthat einfallen möge.“ Dem Knaben stürzten heiße Thränen 
aus den Augen; er wollte danken, aber er konnte nicht; er konnte nur schluchzen. 
Die Prinzessin hielt, was sie versprochen hatte. Der Knabe wurde gut 
erzogen, und seine Wohlthäterin hatte die Freude, ihn zu einem braven, 
frommen und geschickten Manne aufwachsen zu sehen. 
Joachim Heinrich Campe. 
206. Otto mit dem Barte. 
Kaiser Otto der Große wurde in allen Landen gefürchtet; er 
war strenge und ohne Milde, trug einen schönen roten Bart; was 
er bei diesem Barte schwur, machte er wahr und unabwendlich. 
Nun geschah es, daß er zu Babenberg eine prächtige Vlslin⸗ 
hielt, * welcher geistliche und weltliche Fürsten des Reiches in 
großek Zahl kommen mußten. Ostermorgens zog der Kaiser mit 
allen diesen Fürsten in das Münster, um die feierliche Messe zu 
hören, unterdessen in der Burg zu dem Gastmahl die Tische bereitet 
wurden; man legte Brot und sehte schöne Trinkgefäße darauf. An 
des Kaisers Hofe diente aber dazumal auch ein edler und wonne— 
samer Knabe, sein Vater war Herzog in Schwaben und hatte nur 
diesen einzigen Erben. Dieser schöͤne Jüngling kam von ungefähr 
vor die Tische gegangen, griff nach einem linden Brot mit seinen 
zarten, weißen Händen, nahm es auf und wollte essen, wie alle 
Kinder sind, die gerne in hübsche Sachen beißen, wonach ihnen der 
Wille steht. Wie er nun einen Teil des weißen Brotes abbrach, 
ging da mit seinem Stabe des Kaisers Truchseß, welcher die 
sicht über die Tafel haben sollte; der schlug zornig den Knaben aufs 
Haupt; so hart und ungefüge, daß ihm Haar und Haupt blutig 
ward. Das Kind fiel nieder und weinte heiße Thränen, daß es der
	        
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