Full text: Deutsches Lesebuch ([Teil 1, [Schülerbd.]])

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161. Der Höbe auf dem Schloßhofe zu Merseburg. 
Heinrich Prölile. (Gekürzt.) 
Deutsche Sagen. Berlin. 1863. 8 . 250. 
1. Ein Bischof von Merseburg, Thilo von Trothach, besaß einen 
sehr kostbaren Ring, der ihm ungemein lieb und wert war. Beim 
Waschen pflegte er ihn abzuziehen vorn Finger und in das offene 
Fenster seines Schlafgemachs zu legen. Eines Tages vermißte der 
Bischof nach dem Waschen den kostbaren Ring. Nirgends war 
derselbe aufzufinden. Außer dein Bischöfe hatte das Gemach nur 
dessen alter Kannnerdiener betreten, den seiner Treue wegen der 
Bischof hoch schätzte, und den diese Treue gegen allen Verdacht, daß 
er seines Herrn kostbaren Ring entwendet habe, schützte. Allein die 
Liebe, die der Bischof seinem treuen Diener kund gab, hatte schon 
längst diesem unter dem übrigen Hofgesinde Feinde und Neider 
erweckt. 
2. Es gelang, den treuen Diener des Diebstahls zu verdächtigen. 
Er wurde verhaftet, die Untersuchung eingeleitet und von ihm das 
Geständnis, daß er den Ring entwendet habe, durch die Folter 
erpreßt. Seine Aussage war, den Ring habe er auf die Seite 
gebracht, so daß er nicht wieder zu finden sei. Das Urteil lautete 
auf Enthauptung. Auf dem Schafotts soll der Unglückliche, obschon 
vergebens, sein Geständnis widerrufen und erklärt haben, daß er 
zum Zeichen seiner Unschuld, sobald der Kopf gefallen sei, die Hände 
über dem Rumpfe gen Himmel erheben werde, was denn auch 
geschehen sei. Schon dies hatte dem Bischof Zweifel an der Schuld 
des alten liebgewesenen Dieners erregt, und Schwermut bemächtigte 
sich seiner. Auch sollte bald die Unschuld des alten Dieners erwiesen 
werden. 
3. -Eines Tages erschien nämlich beim Bischof ein Schieferdecker 
und überreichte ihm den abhanden gekommenen Ring, den er bei 
einer Dachreparatur^) am weißen Turme, einem hohen Turme des 
Schlosses in der Gegend der Domkirche, in einem dort befindlichen 
Nabenneste nebst andern Kostbarkeiten von Gold und Edelgestein 
gefunden hatte. Den Bischof warf der Kummer auf das Lager, 
von dem er nicht wieder erstand. Fortwährend wird aber noch 
infolge einer dazu vom Bischöfe gemachten Stiftung, welche den 
Unterhalt eines Naben reichlich sichert, auf dem ersten Schloßhofe, 
wenn man vom Domplatz aus das Schloß betritt, in einem großen 
turmartigen Bauer ein großer Kolkrabe zum Andenken an den 
Vorgang unterhalten. 
i) Thilo von Trotha, 1466 bis 1614 Bischof von Merseburg. — 
2) Das Schafott, das Blutgerüst. — 3) Reparieren, ausbessern, in¬ 
stand setzen, ausflicken; Reparatur, Ausbesserung, Instandsetzung, Wieder¬ 
herstellung.
	        
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