Full text: [Teil 2, [Schülerbd.]] ([Teil 2, [Schülerbd.]])

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45. Wie die Vögel das Singen lernten. 
Hermann Kletke. 
Ein neues Märchenbuch. Berlin. 1869. 8. 161. 
[Zuerst in: Almanach deutscher Volks- und Kindermärchen von H. Kletke. 
Berlin. 1840.] 
1. Es war ein so schöner Maimorgen, als ich einmal ganz in 
der Frühe durch den grünen Wald ging. Die Sonne war auch 
erst heraufgekommen und schaute sich mit großen Augen drin um, 
daß die Tautropfen auf den Blättern vor Freude blinkten und 
glitzerten, und überall an den Zweigen guckten die Vögel herunter, 
badeten sich im frischen Tau und sangen mit Heller Stimme ein 
Lied. O, du mein Gott, dachte ich, wie's doch so schön ist auf 
deiner Welt! — Und als ich weiter ging, bekam ich einen guten 
Tag über den andern von den muntern Tierchen. Da fragt' ich so 
ein junges Vögelchen, das wacker mitgeschrien hatte, von wem's 
denn in aller Welt einen so köstlichen Gesang gelernt habe, bei 
welchem dem Wanderer vor Freuden das Herz hüpfe. „Ei, von 
der Mutter!" wurde die Antwort gezwitschert. — Die Mutter, die 
auf dem nächsten Zweige saß und meine Frage gehört hatte, sagte 
freundlich: „Und ich hab's wieder von meiner Mutter, aber das ist 
schon sehr lange her!" — „Und deine Mutter?" — „Von der 
Großmutter, aber das ist ja schon eine Ewigkeit." Und weiter 
hinauf wußten sie's gar nicht mehr. 
2. Da war aber ein anderer Vogel, der schon vor Alter mit 
dem Kopfe wackelte und über die Maßen klug und gelehrt aussah, 
der nahm das Wort und bedeutete mich: „Als die Welt erschaffen 
war," sagte er langsam und ein wenig schnarrend, „sangen alle unsere 
Vorfahren noch recht so, wie ihnen der Schnabel gewachsen war, 
alles durch einander, ohne Melodie und Harmonie, ohne Takt, 
krächzend, schnurrend, pfeifend — kurzum, ohne Sinn und Verstand. 
Sie freuten sich ganz außerordentlich über die schöne Welt, die sie 
sahen, flogen auf und ab, von Zweig zu Zweig und schrien aus 
voller Kehle, was sie nur konnten. Der liebe Herrgott nun, der 
einem jeden so gern eine Freude macht, der hatte ihnen auch eine 
einbeschert. — Mit einem Male, da klingt von dem Rasen eine 
süße himmlische Musik zu ihnen herauf, daß sie alle eins um das 
andere ganz entzückt die Beine hoben, und als sie hinunter sahen, 
was sahen sie da? — Da saßen drei wunderliebliche Engelsgestalten, 
die musizierten so schmelzend und herrlich, wie es seitdem nie wieder 
ein Ohr vernommen hat. Nun gebt acht, sprachen die drei Engel 
zu den Vögeln, jetzt wollen wir euch singen lehren. 
3. Da setzten sich nun viele von den Vögeln ringsum 
auf die nächsten Zweige oder noch näher auf den blumigen 
Rasen, horchten zu, was jene ihnen vorspielten, und versuchten 
es dann mit Hilfe ihrer freundlichen Lehrmeister nachzusingen.
	        
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