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und bietet den gefälligen Anblick wohlgebauter steinerner Häuser
in Gestalt viereckiger Türmchen mit platten Dächern. Von drei
Seiten treten die Berge nahe heran, über welche sich die Pfade
teilweise sehr steil und überaus malerisch hinaufwinden. Die vierte
Seite bildet ein liebliches Feigen- und Oliventhal, dessen ganze
Breite das schöne lateinische, d. i. römisch-katholische Kloster mit
seinem geräumigen Fremdenhause einnimmt. In einer Höhle unter
der Kirche dieses Klosters wird die Stelle der Verkündigung Mariä
gezeigt. Nahe bei der Stadt unter schattigen Olbäumen entspringt
die schöne Quelle der Jungfrau, sorgsam übermauert und vom
klarsten Wasser. Aus diesem Quell schöpfte wohl schon vor acht—
zehn Jahrhunderten, wie dies noch täglich die Nazarenerinnen thun,
die Gebenedeiete unter den Weibern; und mag nicht auch der kleine
Jesus, dieweil er seinen Eltern unterthan war, hier oft genug mit
seinem Krüglein herzugetreten sein? Hinter der Stadt erhebt sich
ein 500 Fuß hoher Berg mit der prachtvollsten Aussicht teils in
das Thal und auf die Stadt mit ihren zusammengedrängten Häusern
und Trümmern, die über Steinplatten am Gebirge heraufkuͤmmen,
teils über die nächsten Höhen hinüber nach Tabor, der Ebene
Jesreel, dem Karmel und dem Mittelmeere. Bies also ist die Heimat
unseres Herrn, die stille Zeugin seiner verborgenen Kindheit. Wenn
die heiligen Geschichtschreiber uns nur weniges über die Erziehung
und heimatliche Umgebung berichtet haben, unter welcher Jesus zu—
nahm an Weisheit und Alter und Wohlgefallen bei Gott und den
Menschen, so kann der andächtige Wanderer hier aus den unver—
gänglichen Zügen einer erhabenen und reizvollen Natur eine unschätz—
bare Ergänzung der Geschichte von der Kindheit Jesu lesen. Im Auf—
blick zu diesem heiteren Ather und im Niederblick auf die gesegneten
Gefilde hat er zuerst auf die sorglose Fröhlichkeit der Vögel ünter dem
Himmel, auf die Pracht der Lilien auf dem Felde, auf den knospen—
treibenden Feigenbaum und die allmählich reifende Ernte achten
gelernt; unter einer solchen Umgebung haͤt sich in sein reines Geinüt
jene fromme, klare Natursinnigkeit eingewöhnt, die ihn späterhin aus
dem verworrenen Gewühle der Menschen, unter denen er wirken
mußte, solange sein Tag währte, immer wieder in den Frieden der
ewig gleichen Natur und in die andachtsvolle Stille der Berge
zurückrief. Ferdinand Väbler.
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123. Jernsalem.
Wenn man von Joppe nach Jerusalem anfangs durch die
blühende Ebene Saron hinaufgeht, so erreicht man in Ramlah den
Fuß des Gebirges Juda. Hinter Ramlah geht der Weg nur noch
kurze Zeit in einem freundlichen Gelände fort und steigt dann
durch die engen, gewundenen Thäler des Kalkgebirges von Juda
unsicher und beschwerlich auf und nieder. Je weiter man vorwärts
dringt, desto kärglicher wird die Pflanzenwelt, desto enger und