Full text: Für die oberen Stufen mehrklassiger Schulen (Teil 2, [Schülerbd.])

135 
für das Neujahr vom Turme hernieder wie ferner Kirchengesang. Er 
wurde sanfter bewegt. Er schaute um den Horizont herum und über 
die Erde, und er dachte an seine Jugendfreunde, die nun, glücklicher und 
besser als er, Lehrer der Erde, Väter glücklicher Kinder und gesegnete 
Menschen waren, und er sagte: „O, ich könnte auch wie ihr die erste 
Nacht mit trockenem Auge verschlummern, wenn ich gewollt hätte! — Ach, 
ich könnte glücklich sein, ihr teuern Eltern, wenn ich eure Neujahrswünsche 
und Lehren erfüllt hätte!“ 
Im fieberhaften Erinnern an seine Jünglingszeit kam es ihm vor, 
als richte sich die Larve mit seinen Zügen im Totenhause auf; endlich 
wurde sie durch den Aberglauben, der in der Neujahrsnacht Geister und 
Zukunft erblickt, zu einem lebendigen Jünglinge. 
Er konnte es nicht mehr sehen; er verhüllte das Auge,— tausend 
heiße Thränen strömten versiegend in den Schnee; — er seufzte nur 
noch leise, trostlos und sinnlos: „Komme nur wieder, Jugend, komme 
wieder!“ —— 
Und sie kam wieder; denn er hatte nur in der Neujahrsnacht so 
fürchterlich geträumt. Er war noch ein Jüngling; nur seine 
Verirrungen waren kein Traum gewesen. Aber er dankte Gott, 
daß er, noch jung, in den schmutzigen Gängen des Lasters umkehren und 
sich auf die Sonnenbahn der Tugend zurückbegeben konnte, die ins reiche 
Land der Ernten leitet. 
Kehre mit ihm um, Jüngling, wenn du auf seinem Irrwege stehest! 
Dieser schreckende Traum wird künftig dein Richter werden; aber wenn 
du einst jammervoll rufen würdest: „Komme wieder, schöne Jugend!“ — 
so würde sie nicht wiederkommen. — 
XXV. 
Johann Peter Hebel. 
(1760 1826.) 
148. Der Kirschbaum. 
Zum Frühling sprach der liebe Gott: „Geh, deck dem Würmlein 
seinen Tisch!“ Darauf der Kirschbaum Blätter trug, viel tausend Blätter, 
grün und frisch. Und's Würmlein — aus dem Ei erwacht's nach langem 
Schlaf im Winterhaus. Es streckt sich, sperrt sein Mäulchen auf und 
reibt die blöden Augen aus. Und drauf so nagt's mit stillem Zahn am 
zarten Blättlein hier und dort und spricht: „Wie ist's Gemüs' so gut; 
man kommt schier nimmer wieder fort!“ 
Und wieder sprach der liebe Gott: „Deck jetzt dem Bienlein seinen 
Tisch!“ Darauf der Kirschbaum Blüten trug, viel tausend Blüten, weiß 
und frisch. Und bei der Sonne Morgenlicht schaut's Bienlein, und es
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.