Full text: Für die oberen Stufen mehrklassiger Schulen (Teil 2, [Schülerbd.])

Hab' ich's denn nicht gesagt dem Herrn: 
Wie schön leuchtet der Morgenstern!“ 
„'s ist nur das Vorspiell“ — „Dummes 
Zeug! 
was spielt er den Choral nicht gleich?“ 
So spielt' ich denn, weil er's befahl, 
ganz ohne Vorspiel den Choral; 
der alte Schnauzbart sang das Lied; 
ich und mein Weib, wir sangen mit. 
Das Lied war aus, still saß der Mann, 
ein heißer Strom von Thränen rann 
ihm übers braune Angesicht, 
das funkelte wie Demantlicht. 
Dann stand er auf und drückte mir 
die Hand und sprach: ,Da nehmt das hier.“ 
Es war ein großes Thalerstück; 
ich wies das Geld beschämt zurück; 
er aber rief: „Was soll das, Mann? 
Bei Gott, es klebt kein Blut daran! 
Gebt's an die Armen in dem Ort.“ 
Drauf gingen wir zusammen fort. 
Und noch im Gehen sprach er weich: 
„Kein Lied kommt diesem Lied mir gleich, 
es hat mich in vergangner Nacht 
zum lieben Gott zurückgebracht. 
's rief gestern Abend der Major 
vor unsrer Front: „Freiwill'ge vor! 
s soll ein verlorner Posten stehn 
dem Feinde nah dort auf den Höhn; 
hat keiner Lust, hat keiner Mut?“ 
Das trieb mir ins Gesicht das Blut: 
„Da müßten wir nicht Preußen sein!“ 
Ich rief's und trat rasch aus den Reihn; 
drei meiner Söhne folgten mir: 
„Gehst du, so gehen wir mit dir!“ 
So zogen wir nach jenen Höhn, 
um dort die ganze Nacht zu stehn. 
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Es blitzte hier, es krachte da, 
es war der Feind uns oft so nah, 
daß er uns sicherlich entdeckt, 
wenn uns nicht droben der versteckt. 
Ja, Mann, ich hab' so manche Nacht 
im Feld gestanden auf der Wacht, 
doch war mir nie das Herz so schwer — 
s8 kam nur von meinen Jungen her; 
ihr habt ja Kinder, — nun da wißt 
ihr selbst, was Kinderliebe ist. 
Drum hab ich auch emporgeblickt 
und ein Gebet zu Gott geschickt; 
und wie ich noch so still gefleht, 
da war erhört schon mein Gebet; 
denn leuchtend ging im Osten fern 
auf einmal auf — der Morgenstern, 
und mächtig mir im Herzen klang 
der längst vergess'ne fromme Sang. 
Hätt' gern gesungen gleich das Lied, 
doch schwieg ich, weil's uns sonst verriet. 
Zugleich fiel mir auch manches ein 
was anders hätte sollen sein; 
vor allem, daß ich dieses Jahr 
noch nicht im Gotteshause waͤr; 
das machte mir das Herz so schwer, 
das war's, das mich tkrieb zu euch her.“ 
Der Alte sprach's, bestieg sein Pferd 
und machte munter rechtsumkehrt. 
Seht! drum hab' ich das Lied so gern: 
„Wie schön leuchtet der Morgenstern!“ 
und spiel' noch heute jedesmal 
ganz ohne Vorspiel den Choral; 
und wenn ich spiel', sitzt immerdar 
mir dicht zur Seite der Husar; 
ich höre seinen kräftgen Baß, 
und da — wird mir das Auge naß. 
Jul. Sturm. 
72. Die geretteten Schiffer. 
Im Jahre 1778, um die Zeit der Frühlings-⸗Nachtgleiche gab es 
eines Tages bei Danzig einen heftigen Sturm. Die ältesten Schiffsleute 
auf der Ostsee konnten sich kaum auf ein ähnliches Wetter an diesen 
Küsten besinnen. Ich wohnte damals mit meinen Eltern nahe an den 
Schiffswerften. Frühmorgens sagte mein Vater zu mir: „Johannes, komm 
an den Strand, es wird heute Unglück die Menge geben.“ Ich folgte 
ihm. — Nach einer Stunde erreichten wir die Danziger Münde; von da 
ging's weiter an das offene Meer. Es war ein kläglicher und herzzer— 
reißender Anblick! Koffer, Trümmer von Schiffen, Tonnen, Ballen von
	        
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