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die Welschen und Griechen. Und obwohl die welsche und griechische Art
einreißt, so ist gleichwohl noch das übrig bei uns, daß kein ernster, greu—
licher Scheltwort jemand reden oder hören kann, denn so er einen Lügner
schilt oder gescholten wird. Und mich dünkt, daß kein schändlicher Laster
auf Erden sei, denn lügen und Untreue beweisen, welches alle Gemeinschaft
der Menschen zertrennt. Denn Lügen und Untreue trennt erstlich die Her—
zen; wenn die Herzen getrennt sind, so gehen die Hände auch voneinander;
wenn aber die Hände voneinander sind, was kann man da thun oder
schaffen? Wo Kaufleute einander nicht Glauben halten, da geht der Markt
zu Grunde. Wenn Bürgermeister, Fürst, König, die Treue nicht hält, da
muß die Stadt verderben, Land und Leute untergehen.
II. Hans Sachs.
(1494 1576.)
91. Der Waldbruder mit dem Esel.
Vorzeiten wohnt in einem Wald
ein Einsiedler, an Jahren alt,
der hat'n Sohn von 20 Jahren
bei sich, einfältig, unerfahren.
Der fragt den Alten: „Sag doch mir,
sind in dem Wald gewachsen wir
wie Buchen, Eichen oder Schlehen?“ —
Denn Menschen hat er nie gesehen.
Der Alte sprach: „Du warst noch klein,
da zog ich mit dir in den Hain
aus der arglistig bösen Welt,
die nur mit Schmähn zu Markte hält
und mit Scheltworten, Spott und Lachen;
denn niemand kann's zu Dank ihr
machen.“
Still schwieg der Sohn; doch Nacht
und Tag
sann er des Vaters Rede nach,
was doch die Welt wohl möchte sein? —
Zuletzt wollt' er durchaus hinein
und quält den Vater stets mit Bitten;
wie sehr der ihm auch widerstritten,
er doch zuletzt beredet ward
und macht sich mit ihm auf die Fahrt.
Sie führten ihren Esel mit,
doch ledig, daß ihn niemand ritt.
Ein Kriegsmann traf sie auf der Reise,
der rief: „Das dünkt mir doch nicht
weise!
Der faule Esel geht allein;
zwei Narren traben hinterdrein!“
Als sie ein Stückchen fürbaß waren,
da fragt der Greis: „Hast Du erfahren
der Welt Begrüßung und Manier?“
Der Sohn sprach: „Helft mir auf das
Tier!
Die Welt will ja, wir sollen reiten!“
Gesagt, gethan! — Da kam von weitem
ein Mütterlein her durch die Äcker.
Die schrie: „Seht doch den jungen Lecker,
der reitet, und der alte Mann
hinkt kläglich mühsam hinteran.“
„Sohn,“ sprach der Greis, „glaubst
du nun mir,
was von der Welt erzählt' ich dir?“
Der Sohn entgegnet: „Wohl, so reite
denn du, und ich geh' dir zur Seite.“
Der Alte thut nach seinem Sinn
und reitet Schritt für Schritt dahin.
Indem so kommt des Wegs ein Bauer,
der redet stracks sie an gar sauer: