Full text: [Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband]] ([Teil 3 = Oberstufe, [Schülerband]])

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217. Die alte Waschfrau. 
Chamisso. 
1. Du siehst geschäftig bei dem Linnen 
Die Alte dort in weißem Haar, 
Die rüstigste der Wäscherinnen 
Im sechsundsiebenzigsten Jahr. 
So hat sie stets mit sauerm Schweiß 
Ihr Brot in Ehr' und Zucht gegessen 
Und ausgefüllt mit treuem Fleiß 
Den Kreis, den Gott ihr zugemessen. 
2. Sie hat in ihren jungen Tagen 
o Geliebt, gehofft und sich vermählt; 
Sie hat des Weibes Los getragen, 
Die Sorgen haben nicht gefehlt. 
Sie hat den kranken Mann gepflegt; 
Sie hat drei Kinder ihm geboren; 
s Sie hat ihn in das Grab gelegt 
UndGlaub'undHoffnung nichtverloren. 
3. Da galt's, die Kinder zu er— 
nähren; 
Sie griff es an mit heiterm Mut, 
o Sie zog sie auf in Zucht und Ehren; 
Der Fleiß, die Ordnung sind ihr Gut. 
Zu suchen ihren Unterhalt, 
Entließ sie segnend ihre Lieben; 
So stand sie nun allein und alt, 
b Ihr war ihr heitrer Mut geblieben. 
4. Sie hat gespart und hat gesonnen 
Und Flachs gekauft und nachts gewacht, 
Den Flachs zu feinem Garn gesponnen, 
Das Garn dem Weber hingebracht; 
Der hat's gewebt zu Leinewand; 
Die Schere brauchte sie, die Nadel, 
Und nähte sich mit eigner Hand 
Ihr Sterbehemde sonder Tadel. 
5. Ihr Hemd, ihr Sterbehemd, sie 
schätzt es, 
Verwahrt's im Schrein am Ehrenplatz; 
Es ist ihr Erstes und ihr Letztes, 
Ihr Kleinod, ihr ersparter Schatz. 
Sie legt es an, des Herren Wort 
Am Sonntag früh sich einzuprägen; 
Dann legt sie's wohlgefällig fort, 
Bis sie darin zur Ruh sie legen. 
6. Und ich, an meinem Abend wollte, 
Ich hätte, diesem Weibe gleich, 
Erfüllt, was ich erfüllen sollte 
In meinen Grenzen und Bereich; 
Ich wollt', ich hätte so gewußt 
Am Kelch des Lebens mich zu laben, 
Und könnt' am Ende gleiche Lust 
An meinem Sterbehemde haben. 
28. Kannitverstan. 
Hebel. 
Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, in Emmendingen und Gundel— 
fingen so gut wie in Amsterdam, Betrachtungen über den Unbestand aller 
irdischen Dinge anzustellen, wenn er will, ünd zufrieden zu werden mit seinem 
Schicksal, wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in der Luft herum— 
ꝛo fliegen. Aber auf dem seltsamsten Umwege kam ein deutscher Handwerks— 
bursche in Amsterdam durch den Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Er— 
kenntnis. Denn als er in diese große und reiche Handelsstadt voll prächtiger 
Häuser, wogender Schiffe und geschäftiger Menschen gekommen war, fiel ihm 
sogleich ein großes und schönes Haus in die Augen, wie er auf seiner ganzen 
Wanderschaft von Tuttlingen bis nach Amsterdam noch keines erlebt hatte. 
Lange betrachtete er mit Verwunderung dies kostbare Gebäude, die sechs Kamine 
auf dem Dache, die schönen Gesimse und die hohen Fenster, größer als an 
des Vaters Hause daheim die Thür. 
Endlich konnte er sich nicht enthalten, einen Vorübergehenden anzu— 
o reden. „Guͤter Freund,“ redete er ihn an, „könnt Ihr mir nicht sagen, wie 
der Herr heißt, dem dieses wunderschöne Haus gehört mit den Fenstern voll 
Tulipanen, Sternenblumen und Levkosen?“ — Der Mann aber, der ver— 
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