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Schilfe lag, und ohne ein Wort weiter zu sagen, schleppte er ihn fort und
verschwand hinter einem Steine.
7. Es trug sich zu, daß bald hernach die Mutter die beiden Mäd⸗
chen nach der Stadt schickte, Zwirn, Nadeln, Schnüre und Bänder ein⸗
zukaufen. Der Weg führte sie über eine Heide, auf der hier und da mächtige
Felsenstücke zerstreut lagen. Da sahen sie einen großen Vogel in der Luft
schweben, der langsam über ihnen kreiste, sich immer tiefer herabsenkte und
endlich nicht weit bei einem Felsen niederstieß. Gleich darauf hörten sie
einen durchdringenden, jämmerlichen Schrei. Sie liefen hinzu und sahen
mit Schrecken, daß der Adler ihren alten Bekannten, den Zwerg, gepackt
hatte und ihn forttragen wollte. Die mitleidigen Kinder hielten gleich
das Männchen fest und zerrten sich so lange mit dem Adler herum, bis
er seine Beute fahren ließ. Als der Zwerg sich von dem ersten Schrecken
erholt hatte, schrie er mit seiner kreischenden Stimme: „Konntet ihr nicht
säuberlicher mit mir umgehen? Gerissen habt ihr an meinem dünnen
Röckchen, daß es überall zerfetzt und durchlöchert ist, unbeholfenes und
täppisches Gesindel, das ihr seid!“ Dann nahm er einen Sack mit Edel—
steinen und schlüpfte wieder unter den Felsen in seine Höhle. Die Mädchen
waren an seinen Undank schon gewöhnt, setzten ihren Weg fort und ver—
richteten ihr Geschäft in der Stadt. Als sie beim Heimwege wieder auf
die Heide kamen, überraschten sie den Zwerg, der auf einem reinlichen
Plätzchen seinen Sack mit Edelsteinen ausgeschüttet und nicht gedacht hatte,
daß so spät noch jemand daherkommen würde. Die Abendsonne schien
über die glänzenden Steine. Sie schimmerten und leuchteten so prächtig
in allen Farben, daß die Kinder stehen blieben und sie betrachteten. ,Was
steht ihr da und habt Maulaffen feil!“ schrie der Zwerg, und sein asch—
graues Gesicht ward zinnoberrot vor Zorn. Er wollte mit seinen Schelt—
worten fortfahren, als sich ein lautes Brummen hören ließ und ein
schwarzer Bär aus dem Walde herbeitrabte. Erschrocken sprang der
Zwerg auf; aber er konnte nicht mehr zu seinem Schlupfwinkel gelangen,
der Bär war schon in seiner Nähe. Da rief er in Herzensangst: „Lieber
Herr Bär, verschont mich! Ich will Euch alle meine Schätze geben;
sehet, die schönen Edelsteine, die da liegen! Schenkt mir das Leben; was
habt Ihr an mir kleinem, schmächtigem Kerl! Ihr spürt mich nicht
zwischen den Zäühnen. Da, die beiden gottlosen Mädchen packt, das sind
für Euch zarte Bissen, fett wie junge Wachteln, die freßt in Gottes
Namen!“ Der Bär kümmerte sich um seine Worte nicht, gab dem bos—
haften Geschöpf einen einzigen Schlag mit der Tatze, und es regte sich
nicht mehr.
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. B. I. Neubtg
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