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67. Der nordische Krieg.
schen Spekulationen scheinen ihn auf den Gedanken einer unvermeid¬
lichen Vorherbestimmung geleitet zu haben, die ihm die außerordentliche
Verachtung der Gefahr gab; keine Vorstellungen waren im Stande,
seine Verwegenheit zu mäßigen; er duldete nicht, daß seinetwegen irgend
eine Vorkehrung der Sicherheit getroffen ward; Schanzen schienen ihm
ein Beweis der Furcht; ganz absichtlich setzte er sich oft dem heftigsten
Feuer aus; allein ritt er viele Meilen auf unbekannten Wegen, durch
Sümpfe und Wälder, wo er überall von Feinden umgeben war. Nichts
ging in seinen Augen über einen tüchtigen Soldaten, dem er selbst zum
glänzendsten Vorbild diente; daher schien es ihm seine erste Obliegen¬
heit, bei jedem Kampfe als der Erste zu glänzen; kaum kam Nachricht
von irgend einem Scharmützel, so mußte er dabei sein. Bis zu einem
gewissen Grade war er auch ein guter Feldherr. Karl kannte recht
gut die alte Lehre, daß der Krieg sich selbst ernähren, in sich selbst die
Mittel zu seiner Fortsetzung erzeugen muß; er verfuhr daher in den
Ländern, wo seine Soldaten standen, mit einer Schonungslosigkeit, die
an Grausamkeit grenzte; hatten seine Soldaten nur, was sie bedurften,
so war es ihm ganz gleichgültig, woher sie es nahmen; er sah den
Ruin seines eigenen Landes eben so gleichgültig, als das Verderben
Polens und der Ukraine, wenn er nur Soldaten hatte und es diesen
leidlich ging. Dagegen fehlte ihm ganz die Gabe umfassender Be¬
rechnungen, die große Kunst, sich ein letztes Ziel, vorzustecken, dessen
Erreichung zugleich die Entscheidung mit sich führt. Das Tragische
seines Schicksals, indem sein ganzes Leben nur eine Verthcidigung gegen
Vergewaltigung ist, der er rastlos die Stirn bietet, ohne zu wanken
und zu erliegen, söhnt auch diejenigen mit ihm aus, die das Fehlerhafte
und Falsche in seinen Maßregeln mißbilligen. Er war kein König
für seine Zeit, die schon List und Falschheit erforderte; aber er war
ein Mann, ein Held. Mit ihm erlischt das Geschlecht Karl Gustav's;
er ist der letzte in der Reihe der großen Könige, die dem schwedischen
Thron einen Glan; geben, der auch noch auf die folgenden schlaffen,
traurigen Zeiten seine Strahlen wirft.
67. Der nordische Krieg.
(Nach F- C. Schlosser, Geschichte des ]8. Jahrhunderts, bearbeitet vom
Herausgeber.)
1. Ursachen und Anfang des Krieges.
In Rußland hatte Peter I. am Ende des 17. Jahrhunderts den
Anfang gemacht, jene Veränderungen einzuführen, welche Rußland aus
einem asiatischen Reiche zu einem europäischen machen sollten. Zur
Ausführung seines Planes, eine neue Seemacht zu bilden, bedurfte er