Full text: [Teil 7 = (7. u. 8. Schulj.), [Schülerbd.]] (Teil 7 = (7. u. 8. Schulj.), [Schülerbd.])

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Über die erschreckende Geschwindigkeit dieses Probezuges — er fuhr in 
kaum einer Stunde richtig bis nach Zehlendorf, während der heutige Schnell— 
zug dazu gerade sechzehn Minuten braucht — wußte der Bericht die öffent— 
liche Meinung zu beruhigen. Im Wagen merke man die rasende Geschwindig— 
keit gar nicht. Selbst den Tunnel bei Schöneberg passiere der Zug, ohne 
daß die Damen aufgeschrieen hätten. Nur wenn man hinausblicke, werde 
man ein wenig schwindlig; aber die Berliner seien nicht so nervenschwach und 
würden sich auch daran mit der Zeit gewöhnen. Um aber den nervenstarken 
Berlinern ein richtiges Bild von dem Eindrucke dieser Schnelligkeit zu geben, 
versicherte der Berichterstatter, daß es ihm trotz der schnellen Fahrt voll— 
ständig gelungen wäre, die Gänse auf einer Wiese in der Nähe von Steglitz 
zu zählen. Und das würde wohl jedem Berliner mit ruhigem Blicke gleich⸗ 
falls möglich sein. 
Diese Voraussetzung bewährte sich vollkommen. Die Bahn wurde fertig. 
Die Berliner zählten die Gänse, wenn solche da waren, und gewöhnten sich 
dermaßen an die Geschwindigkeit, daß man sehr bald die ganze Fahrt bis 
Potsdam in anderthalb Stunden abmachen konnte. 
Als am Ende gar noch die Eisenbahn die Post auf den Rücken nahm 
und mit ihr in die Welt hineinjagte, vertrauten sich selbst Posträte ihr an 
und fanden, daß die Welt nicht ihrem Untergange deshalb zueile. 
Von da ab wühlte der böse Zeitgeist gar schrecklich in der unruhigen 
Menschheit. Man begnügte sich nicht mehr, mit all den Eisenbahnen nach 
allen Seiten hin gewaltige Reisen, auf welchen man sonst Wochen zubrachte, 
in einem Tage abzumachen; nein, man faßte den Entschluß, auch nachts 
die Reisenden zu befördern. 
Mitten in der Nacht? Gar durch die ganze Nacht? Es war ein er— 
schreckender Gedanke! Wer wird denn des Nachts reisen? Wer anders will 
denn des Nachts reisen als Diebe und Mörder? Wird es selbst der wach— 
samsten Polizei möglich sein, hierüber eine Kontrolle auszuüben? Die ver— 
wegene Idee erregte Schaudern in allen redlichen Gemütern, die da wissen, 
daß die Nacht keines Menschen Freund ist. Man mochte sich nur mit dem 
Gedanken trösten, daß die Nachtzüge gewiß nur sehr, sehr langsam fahren 
und nur ganz solide Reisende befördert werden, die den Nachweis führen, daß 
sie durch besondere Umstände genötigt sind, zu Nachtreisen ihre Zuflucht 
zu nehmen. 
In der Tat begannen die Nachtzüge zuerst mit langsamen Fahrten; 
aber nach kurzer Zeit kehrte sich die Weltordnung vollständig um, die Nacht— 
züge wurden die Jagdzüge, und viele Leute finden jetzt, daß das Reisen am 
Tage eine Zeitverschwendung ist, da man im Schlafkoupee, in das man in 
Berlin abends einsteigt, vortrefflich ruht, und am Morgen in Köln frisch 
und munter ist, um dort seine Geschäfte abzuwickeln.
	        
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