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im Lesen, Schreiben, Rechnen u. dergl. überwachte, ja häufig demselben bei—
wohnte, suchte die künstlerisch hochgebildete Mutter, Kronprinzessin Viktoria,
mehr den Schönheits- und Geschmackssinn des Sohnes in Pflege zu nehmen,
indem sie dessen Unterricht im Zeichnen überwachte und seine Spiele leitete.
So wurde Prinz Wilhelm für die höheren Klassen eines Gymnasiums vor—
bereitet und trat — der erste Fall im preußischen Königshause — 1874
mit seinem um drei Jahre jüngeren Bruder Heinrich in das Gymnasium
zu Kassel ein. Der Vater wollte, daß seine Söhne ohne Bevorzugung
mit den anderen Schülern des Gymnasiums zusammen sich ihre allgemeine
Vorbildung erwerben sollten. Ein Brief an den Direktor der Anstalt enthält
die bemerkenswerte Stelle: „Die Prinzen müssen sich der Schulordnung voll—
ständig unterwerfen, und ihre ganze Tätigkeit muß nach den Forderungen
der Schule geregelt werden. Von Wichtigkeit ist mir die Einführung der
Prinzen in das wirkliche, ihnen sonst fern bleibende Leben durch Herstellung
eines völlig freien Verkehrs und gemeinsamen Strebens mit Altersgenossen;
auch soll ihnen Gelegenheit gegeben werden, sich durch eigene Geschick—
lichkeiteine Stellung zu erringen, die ihnen ihr Rang
nicht geben kann.“ So war Prinz Wilhelm drei Jahre lang Schüler
des Kasseler Gymnasiums und unterwarf sich willig der Schulordnung. In
allen Stücken, selbst in der Kleidung, stellte er sich seinen Mitschülern gleich,
nahm teil an ihren Bestrebungen, Spielen und Scherzen, und alle, welche mit
ihm die Schule besuchten, rühmen die Freundlichkeit, mit welcher er ihnen
stets begegnet sei. Seinen Lehrern gegenüber war er bescheiden, ent—
gegenkommend und gehorsam; er entzog sich sogar nicht den kleinen Dienst—
leistungen, zu welchen die Schüler in den Klassen herangezogen zu werden
pflegen. Dem Unterricht folgte er mit unermüdlicher Ausdauer; namentlich
brachte er dem Unterricht in der Geschichte große Teilnahme entgegen, und
unsere deutschen Heldensagen machten ihm eine besondere Freude. Neben—
bei versäumte er aber auch nicht die Pflege seiner körperlichen Ausbildung,
und obwohl von Geburt mit einer kleinen Schwäche des linken Armes be—
haftet, wurde er doch ein vortrefflicher Turner, Schwimmer und Fechter,
wie er sich auch später zu einem kühnen und gewandten Reiter ausgebildet
hat, alles durch Selbstbeherrschung und eiserne Beharrlichkeit.
Nachdem der Prinz mit regem Fleiße und größter Pflichttreue sich von
Klasse zu Klasse emporgearbeitet hatte, bestand er gemeinsam mit den Schülern
der obersten Klasse die Abgangsprüfung in so glänzender Weise, daß ihm die
Anerkennungsmedaille zuteil wurde, welche nach altem Herkommen jährlich
den besten Schülern des Kasseler Gymnasiums verliehen wird. Als ihm der
Direktor dieselbe mit dem ausdrücklichen Hinweis überreichte, daß er diese
Auszeichnung nicht seinem Range, sondern nur seinem un—
ermüdlichen Fleiße und seinem tadellosen Betragen ver—