Full text: (Für das 5. - 8. Hilfsschuljahr) (Teil 3, [Schülerbd.])

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heimbringen würde. Da klopfte plötzlich Christiane, die alte Magd, 
heftig an die Stubentür und ries mit freudiger Hast: „Der Herr Sohn 
kommt! Der Herr Zacharias ist da!" 
3. Und richtig! Ehe noch Rosine herausgekommen, war der Wagen 
bereits über das holperige Pflaster des Marktes gerollt und stand vor 
dem Hause. Aber merkwürdig! nicht das grüne Kaleschlein war es, 
und vom treuen Braunen gezogen, sondern eine stattliche Landkutsche 
war's, mit zwei stämmigen Füchsen bespannt. Vorn auf dem Bock 
saß wohl der Zacharias mit seinem Knechte, dem Hans, aber aus den 
Hintersitzen des Wagens schauten statt der Geldsäcke neun fremde Ge¬ 
sichter heraus, acht kleine und ein großes. Die kleinen gehörten acht 
lieblichen, wenn auch etwas blaß aussehenden Kindern, das große 
aber einer älteren Magd, die offenbar zur Wartung derselben bestimmt 
war. Frau Rosine schlug über das ungewohnte Schauspiel einmal 
über das andere die Hände über dem Kopfe zusammen. Zacharias 
aber hob die Kinder mit Lächeln vom Wagen herunter und rief: „Sieh, 
Mutter, da bring ich dir lauter Vaterunser!" Dann nahm er die 
etwas schüchternen Vaterunser bei der Hand, führte sie ins Haus 
und ließ ihnen zunächst zu essen und zu trinken geben. Die Mutter 
aber, noch immer vor Überraschung sprachlos, mußte sich mit am Tische 
niederlassen und zuhören, was Zacharias erzählte. 
4. „Liebe Mutter," sprach er, „ich sollte dir einen Haufen Geld 
mitbringen, und ich habe dir dieses Häuflein Kinder mitgebracht! 
Verzeih mir! Aber — ich konnte nicht anders! Als ich in Hamburg 
angekommen war, fragte ich sogleich nach deni Kaufmann Hennig, 
unseren: Schuldner. Man wies mir die Straße und das Hans, und 
als ich durch die Haustür schritt, freute ich mich schon über das Geld, 
das mir nun auf alle Fülle sicher war, und mit dem ich dir eine 
große Freude zu machen hoffte. Aber Gottes Gedanken sind nicht 
unsere Gedanken, und unsere Wege nicht seine Wege. Ich war in ein 
Trauerhaus gekommen. Ter Kaufmann Hennig war vor wenigen 
Tagen nach langem, schwerem Siechtum gestorben, und seine Gattin 
lag oben in der Kammer auf dem Totenbette. Rings um das Toten¬ 
bett der Mutter aber weinten und klagten acht unerzogene Kinder! — 
Was sollte ich in dieser Lage nun machen? Schulden einkassieren — 
das konnte ich nicht. Die weinenden Kinder und die erblaßte, stumme 
Mutter, sie haben mir fast das Herz abgedrückt. In einem solchen 
Trauerhause gab es nichts einzukassieren. — Da dachte ich denn: 
Hirts Deutsches Lesebuch. Ausg. 0 für Hilfsschulen. III. Teil. 13
	        
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