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2. Innerhalb des Stakets standen so viele steife, vornehme
Blumen. Je weniger Duft sie hatten, um so mehr Prunkten sie. Die
Päonien bliesen sich auf, um größer als eine Rose zu sein; aber die
Größe macht es nicht! Die Tulpen hatten die allerschönsten Farben,
und das wußten sie wohl und hielten sich kerzengerade, damit man
sie besser sehen möchte. Sie beachteten die kleine Gänseblume da
draußen gar nicht. Aber die sah desto mehr nach ihnen und dachte:
,,Wie sind sie reich und schön! Ja, zu ihnen fliegt sicher der prächtige
Vogel hernieder und besucht sie!" Gerade, wie sie das dachte, quiwit!
da kanl die Lerche geflogen, aber nicht zu den Päonien und Tulpen
herunter, nein, hernieder ins Gras zu der armen Gänseblume. Die
erschrak vor lauter Freude so, daß sie gar nicht wußte, was sie denken
sollte. Der kleine Vogel tanzte rings um sie her und sang: „Sieh,
welch eine liebliche, kleine Blume mit Gold im Herzen und Silber
auf denl Kleide!" Der gelbe Punkt in der Gänseblume sah ja auch
aus wie Gold, und die kleinen Blätter ringsherum erglänzten silber¬
weiß. Wie glücklich die kleine Gänseblume war, das kann sich niemand
denken. Der Vogel küßte sie mit seinem Schnabel, sang ihr vor nub
flog dann wieder in die blaue Luft hinauf.
3. Zur selben Zeit kam in den Garten ein Mädchen mit einem
großen, scharfen Messer. Sie ging gerade zu den Tulpen hin und
schnitt eine nach der anderen ab. „Uh!" seufzte die kleine Gänseblume,
„das ist ja schrecklich, nun ist es mit ihnen aus!" Dann ging das
Mädchen mit den Tulpen fort. Das Gänseblümchen aber war froh
darüber, daß es draußen int Grase stand und eine kleine, arme Blume
war. Es war so dankbar, und als die Sonne unterging, faltete es
seine Blätter, schlief ein und träumte die ganze Nacht von der Sonne
und dem kleinen Vogel.
4. Am nächsten Morgen, als die Blume wieder glücklich alle
ihre weißeil Blätter geradeso wie kleine Arme gegen Luft und Licht
ausstreckte, erkannte sie des Vogels Stimme; aber es war so traurig,
was er sang. Ja, die arme Lerche war gefangen worden und saß
nun in einem Käfig, dicht bei dem offenen Feilster. Sie besang das
freie und glückliche Umherfliegen, sang von dem jungen, grünen Koril
auf dem Felde und voll der herrlichen Reise, die sie auf ihren Flügeln
hoch in die Luft hinauf machen konnte. Der arme Vogel war sehr
betrübt; gefangen saß er da im Käfig. Die kleine Gäiiseblume hätte
fhm so gern geholfen. Aber wie sollte sie das anfangen? Sie vergaß
Dirts Deutsches Lesebuch. Ausg. 0 sür Hilfsschulen. III. Teil. 2