2. Allgem. geschichtl. Durchblick auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens u. d. Finanzen 47
Diese theoretischen Ansichten vereinigten sich aufs glücklichste mit dem englischen
Vorteil. England, gestützt auf den größten Welthandel und die fähigste Industrie,
konnte überall die Gegner ans dem Felde schlagen, gleichzeitig aber auch das Auf¬
kommen selbständigen Handels, eigener Industrien im Namen der Freiheit bei fremden
Staaten verhindern. Ein Wettbewerb der Gegner auf dem englischen Heimatsmarkt
schien aber bei der wirtschaftlichen Erschöpfung des Festlandes nach den napoleonischen
Kriegen gänzlich ausgeschlossen. England erkannte als erster Staat die Freiheit der
südamerikanischen Republiken an. Dies große Absatzgebiet wollte es sich sichern und
trennte sich so aus handelspolitischen Gründen von der Politik der Heiligen Allianz.
Erst als sich seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts in Großbritannien der
deutsche Wettbewerb merkbar machte, tauchte der Gedanke einer Schutzzollpolitik
auf. Joseph Chamberlain wollte das ganze englische Reich mit einer Schutzzollinie
nach außen abschließen, tzie Kolonien mit England durch Vorzugszölle verbinden.
Dadurch sollte ein einheitliches Wirtschaftsgebiet von ungeheurer Geschlossenheit und
Kraft erzielt, der deutsche Wettbewerb ausgeschlossen und niedergerungen werden.
Die ausschließliche Begünstigung von Handel und Industrie führte
aber zum Niedergänge der Landwirtschaft.
Nach Aufhebung aller Getreidezölle lohnte sich die landwirtschaftliche Erzeugung
nicht mehr, die Bauerngüter gingen in die Hände der Großgrundbesitzer über. Diese
wandelten den größten Teil des erworbenen Gebietes in Parkanlagen und Jagdgründe
um und ließen das übriggebliebene Land durch Pächter bestellen. Das Mutterland blieb
also aus die Korneinfuhr angewiesen, für deren Sicherheit und Stetigkeit eine gewaltige
Kriegsflotte sorgte.
Die Jndustriearbeiterschaft, die sich neu gebildet hatte, befand sich in
einer nicht ungünstigen Lage. Sie hatte das Vereinigungsrecht und konnte
durch Arbeitseinstellung ihre Lage verbessern. Die Gründung von Arbeiter¬
verbänden (Gewerkschaften, Trade Unions) gab der Jndustriebevölkerung
ein Mittel sich zu organisieren und politischen wie wirtschaftlichen Einfluß
im Staate zu gewinnen.
6) Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkter Zollschutz.
Eingreifen des Staates in das Wirtschaftsleben.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kam dann in allen übrigen
Staaten eine selbständige Industrie auf. Auch eine allgemeine Teil¬
nahme am Welthandel setzte ein. Eisenbahnen und Dampfschiffe wurden
in den Dienst von Industrie und Handel gestellt. Die Maschinen ermög¬
lichten eine weitgehende Arbeitsteilung. In Europa und Amerika bildete
sich ein selbständiger Fabrikarbeiterstand aus. Ein Großkapital entstand.
Gleichzeitig machten sich Bestrebungen geltend, die eigene Industrie gegen
die ausländische abzuschließen, um ihr die Möglichkeit selbständiger Ent¬
wickelung zu bieten. So gingen die meisten Staaten mit Ausnahme Eng¬
lands zum Schutzzoll über, Frankreich, Amerika, Deutschland, Japan.
An Stelle der Freiheit trat wieder die Beschränkung. Dieser Zug wird ix,
auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens immer deutlicher. Die sozialistische
Theorie (Karl Marx, „das Kapital") forderte den Übergang aller Pro¬
duktionsmittel in den Besitz des Staates. Grund und Boden, Werkzeuge,
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