Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Mädchenschulen ([Teil 4, [Schülerband]])

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einmal wirklich so. Der liebe Gott weiß, daß ich selbst durchaus 
nichts dazu getan habe als das, was ich nach meinem schwachen 
Vermögen für mein Dasein tun mußte. Und doch gewährte er mir 
eine Freude nach der andern; jedesmal wenn ich denke: Aus ist das 
Lied, dann geht es gerade zu etwas Höherem und Besserem über. 
Nun werde ich gewiß auf Reisen in der ganzen Welt herum gesandt 
werden, damit alle Menschen mich lesen können. Das ist das Wahr⸗ 
scheinlichste. Früher trug ich blaue Blumen, jetzt habe ich für jede 
Blume die schönsten Gedanken. Ich bin der Allerglücklichste!“ 
Aber das Papier kam nicht auf Reisen; es kam zum Buch⸗ 
drucker, und da wurde alles, was darauf geschrieben stand, zum 
Drucke zu einem Buche gesetzt, ja, zu vielen hundert Büchern; denn 
so konnten unendlich viel mehr Leute Nutzen und Freude davon haben, 
als wenn das einzige Papier, auf dem das Geschriebene stand, die 
ganze Welt durchlaufen hätte und auf dem halben Wege schon ab— 
genutzt worden wäre. 
„Ja, das ist freilich das Allervernünftigste!“ dachte das be— 
schriebene Papier. „Das fiel mir gar nicht ein. Ich bleibe zu 
Hause und werde in Ehren gehalten wie ein alter Großvater. Ich 
bin es, der beschrieben worden ist; die Worte flossen aus der Feder 
gerade in mich hinein. Ich bleibe, und die Bücher laufen herum. 
Nun kann ordentlich etwas ausgerichtet werden. Nein, wie bin 
ich froh, wie bin ich glücklich!“ 
Dann wurde das Papier in ein Päckchen gesammelt und in ein 
Fach gelegt. „Nach vollbrachter Tat ist gut ruhen!“ sagte das Papier. 
Es ist ganz in der Ordnung, daß man sich sammelt und über das 
nachdenkt, was in einem wohnt. Jetzt weiß ich erst recht, was in 
mir enthalten ist. Und sich selbst kennen, das ist erst der wahre 
Fortschritt. Was nun wohl kommen wird? Aus ist die Sache 
noch nicht, es geht immer vorwärts!“ — 
Eines Tages wurde alles Papier auf einen Feuerherd gelegt, 
denn es sollte verbrannt und nicht an Höker verkauft werden, die 
Butter und Zucker darin einwickeln. Alle Kinder im Hause standen 
ringsherum, sie wollten es auflodern sehen, sie wollten die vielen roten 
Feuerfunken in der Asche sehen, die gleichsam davonlaufen und er— 
löschen, einer immer nach dem andern, ganz geschwind. — Das sind 
die Kinder, die aus der Schule kommen, und der allerletzte Funke ist 
der Schulmeister; oft glaubt man, daß er schon fort ist, aber dann 
kommt er auf einmal noch hinterher.
	        
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