Brüder Grimm: Der Arme und der Reiche.
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Als die Mutter hörte, wie es zu dem Reichtum gekommen war,
wollte sie der andern, häßlichen und faulen Tochter gerne dasselbe Glück
verschaffen. Sie mußte sich auch an den Brunnen setzen und spinnen;
und damit ihre Spule blutig würde, stach sie sich in die Finger und
stieß sich die Hand an der Dornenhecke. Dann warf sie die Spule in
den Brunnen und sprang selber hinein. Sie kam wie die andere auf
die schöne Wiese und ging auf demselben Pfade weiter. Als sie zu
dem Backofen gelangte, schrie das Brot wieder: „Ach, zieh mich hinaus,
zieh mich hinaus, sonst verbrenn' ich; ich bin schon längst ausgebacken."
Die Faule aber antwortete: „Da hätt' ich Lust, mich schmutzig zu
machen," und ging fort.h Bald kam sie zu dem Apfelbaum, der rief:
„Ach, schüttele mich, schüttele mich, wir Äpfel sind alle miteinander
reif." Sie antwortete aber: „Du kommst mir recht, es könnte mir
einer auf den Kopf fallen," und ging damit weiter. Als sie vor der
Frau Holle Haus kam, fürchtete sie sich nicht, weil sie von ihren großen
Zähnen schon gehört hatte, und verdingte sich gleich bei ihr. Am ersten
Tage that sie sich Gewalt an, war fleißig und folgte der Frau Holle,
wenn sie ihr etwas sagte; denn sie dachte an das viele Gold, das sie
ihr schenken würde. Am zweiten Tage aber fing sie schon an zu fau¬
lenzen; am dritten noch mehr, da wollte sie morgens gar nicht auf¬
stehen ; sie machte auch der Frau Holle das Bett schlecht und schüttelte
es nicht, daß die Federn aufflogen. Dessen ward die Frau Holle bald
müde und sagte der Faulen den Dienst auf. Die war es wohl zu¬
frieden und meinte, nun würde der Goldregen kommen; die Frau Holle
führte sie auch zu dem Thor; als sie aber darunter stand, ward statt
des Goldes ein großer Kessel voll Pech ausgeschüttet. „Das ist zur
Belohnung deiner Dienste," sagte die Frau Holle und schloß das Thor
zu. Da kam die Faule heim, ganz mit Pech bedeckt; der Hahn aber
auf dem Brunnen, als er sie sah, rief:
„Kikeriki,
Unsere schmutzige Jungfrau ist wieder hie!"
Das Pech aber wollte, solange sie lebte, nicht abgehen und blieb an
ihr hangen. ,_
6. Oer Arme und der Reiche. (Aus Hessen.)
Von den Brüdern Grimm. Kinder- und Hausmärchen. Göttingen, 1857.
Vor alten-Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter
den Menschen wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends müde
war und ihn die Nacht überfiel, ehe er zu einer Herberge kommen
konnte. Nun standen auf dem Weg vor ihm zwei Häuser einander
gegenüber, das eine groß und schön, das andere klein und ärnckich an¬
zusehen, und gehörte das große einem reichen, das kleine einem armen
Manne. Da dachte unser Herrgott: Dem Neichen werde ich nicht be¬