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IV. Sagen.
hatte absichtlich das Schwert Siegfrieds vor sich auf die Kniee gelegt
und bekannte laut und öffentlich seine Tat. Kriemhild brach in Klagen
aus, gebot aber den Hunnen, sich wieder zurückzuziehen.
Darauf wurden die Burgunden von Etzel wohl empfangen und
im Königsaal festlich bewirtet. Nicht ohne bange Besorgnis aber
begaben sich die Gäste zur Ruhe; aus Vorsicht hielten Hagen und
Volker Wache vor dem Saal. — Anderen Tages wurde ein Kampf¬
spiel gehalten, bei dem Volker einen hunnischen Junker niederrannte.
Die Hunnen stürzten grimmig herbei; aber Etzel sprang unter sie und
gebot mit mächtiger Stimme Frieden: Die Tat sei ja nicht absichtlich
geschehen.
Während des nächsten Mahles zeigte Etzel seinen steinen Sohn
Ortlieb den angekommenen Verwandten und empfahl ihn ihrer
Freundschaft, wenn er ein Mann geworden wäre. Hagen erwiderte
spottend: „Mir scheint das Knäblein schwach, und ich fürchte, daß nie
ein Mann aus ihm werden wird." Den König verdroß die bittere
Rede, und die Hunnen teilten seinen Mißmut.
3. Ausbruch des Kampfes und anfängliche Niederlage
der Hunnen.
Hägens Bruder Dankwart mar mit einem großen Teile der
Burgunden in einem andern Gebäude untergebracht. Als sie dort
beim Mahle saßen, erschien Blödelin, Etzels Bruder, der Kriem-
hilden Rache für ihren Gemahl versprochen hatte, mit einer Schar
Bewaffneter. Dankwart ging ihm freundlich entgegen, aber der andere
begehrte den Kampf. Da sprang Dankwart empor und hieb dem
Hunnen mit einem Schwertstreiche das Haupt ab. Nun erhob sich ein
wütendes Gefecht zwischen den Hunnen und den Nibelungen.
Dankwart rettete sich nach Etzels Speisesaal, stellte sich, die
blanke Waffe in der Hand, an die Tür und rief: „Bruder Hagen,
allzulange sitzest du hier und kennst nicht unsere Not: Die Ritter und
Reisige liegen erschlagen in der Herberge!" Hagen stand auf und
befahl ihm, den Ausgang wohl zu bewachen; jetzt sei es Zeit, Kriem-
hilden den Versöhnungswein einzuschenken. Damit hieb er dem kleinen
Ortlieb den Kopf ab und gab hierdurch das Zeichen zum allgemeinen
Streite. Toben und Morden füllte den Saal. Zu Dankwart gesellte
sich noch Volker, um dem Eindringen der Hunnen von außen zu wehren.
„Jetzt ist der Saal wohl verschlossen", rief Hagen den Nibelungen
zu; „denn zweier Helden Hände gehen tausend Riegeln vor."
In Todesangst bat Kriemhild Dietrich von Bern um Hilfe. Er
sprang auf einen Tisch, gebot mit gewaltiger Stimme Waffenruhe
und verkündete, daß er und Rüdiger, als bei dem Streite unbeteiligt.