Göttersagen
Die Welten nnd ihre Bewohner.
Gegen Feindeswaffe und reißender Tiere Zahn wußte sich der
Germane selbst seiner Haut zu wehren, aber den unergründeten Äußerungen
der Natur, dem Wüten der Elemente gegenüber war der Starke wehrlos.
In ihnen sah er das Walten überirdischer Machte, die ihm wohl oder
übel wollten. Gute Götter sandten ihm Erntesegen und Wohlstand,
Kraft und Gesundheit, Sieg und .Heldenruhm; die bösen, feindseligen
Geister Mißwachs und Hagelschlag, Krankheit und Not, Unsieg und Tod.
Wie aber des Menschen Leben ein fortwährender Kampf ist gegen die
drohenden Gefahren, so dachte sich der Germane auch das geheimnisvolle
Leben der Natur als einen Kampf zwischen den lichten, freundlichen
Göttern des Himmels und den finstern, bösen Mächten der Riesenwelt.
Nicht immer war es so gewesen. Einst herrschte ein goldenes Zeit¬
alter, kein Unterschied der Zeiten, kein Wechsel des Glücks. Da lebten
die Götter in seligem Frieden. Als sie aber in unseliger Goldgier sich
zu Frevelthaten fortreißen ließen, da war es vorbei mit dem Frieden
der Welt, und seitdem tobt der große Weltkampf, bis dereinst alles
Bestehende in einem ungeheuren Brande zu Grunde geht und eine neue,
schuldlose Zeit ohne Kampf und ohne Übel hereinbricht.
Die Welt, wie sie besteht, ist eine Schöpfung der Götter oder
Äsen. In die Mitte des Alls setzten sie Midgard und wiesen hier
Wohnung den Menschen, die sie aus Bäumen schufen. Hoch darüber im
blauen Himmel richteten sie selbst ihre Wohnstätte in Asgard auf,
wo sie in zwölf hochragenden, von Gold und Silber weithin strahlenden
Burgen hausen. Vom Himmel zur Erde hernieder führt eine Brücke,
Bi fr ö st, die bebende Rast, genannt, ein Kunstwerk, wie es kein
zweites im Himmel und auf Erden giebt; denn sie ist zwar sehr
stark und fest, aber doch vermögen nur die Götter darüber zu schreiten
oder zu reiten, weil von den drei Farben, in denen sie erglänzt, das
Germanisches Sagen- und Märchenbuch. 1