Full text: Germanisches Sagen- und Märchenbuch

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Göttersagen. 
Zio—Tyr. 
Als die Götter die Brut Lokis unschädlich machten, Hel in die 
Unterwelt, die Midgardschlange ins Meer warfen, behielten sie den noch 
jungen Fenriswolf bei sich und zogen ihn auf. Er war jedoch von 
Anfang an so furchtbar, daß nur Tyr es wagte, zu ihm zu gehen und 
ihm das Futter zu geben. Als nun die Götter sahen, wie sehr der 
Wolf von Tag zu Tag wuchs, und alte Weissagungen kündeten, daß er 
zu ihrem Verderben bestimmt sei, beschlossen sie eine sehr starke Fessel 
zu machen. Die brachten sie dem Wolfe und baten ihn, sich zur Probe 
seiner Kraft die Fessel anlegen zu lassen; denn sie glaubten, das Untier 
würde im Vertrauen aus seine Stärke ihnen willfahren. So geschah 
es auch: geringschätzig blickte der Wolf auf die Fessel und hieß die Asm 
damit machen, was sie wollten. Kaum aber war er gebunden, da reckte 
er sich nur einmal, und das Band war zerrissen. Darauf machten die 
Asm eine noch stärkere Fessel und reizten den Wolf, sich auch diese an¬ 
legen zu lassen, indem sie sagten, er würde seiner Kraft wegen sehr 
berühmt werden, wenn auch so starke Bande ihn nicht halten könnten. 
Zwar sah der Wolf, daß diese Fessel viel stärker war; aber er gedachte, 
daß auch seine Kraft gewachsen sei, seit er die erste gebrochen, und daß 
man nicht berühmt werden könne, ohne einige Gefahr zu bestehen. Er 
ließ sich also abermals binden. Als aber die Äsen damit fertig waren, 
schüttelte er sich und schlug die Fessel an dm Boden, daß die Stücke 
weit davon flogen. Da fürchteten die Äsen, sie würden den Wolf gar 
nicht mehr binden können. 
Odin aber schickte zu den Zwergen in Schwarzalfenheim, welche 
als die kundigsten Zauberschmiede galten. Die verfertigten eine Fessel, 
Gleipnir genannt, die war gemacht aus sechserlei Dingen: aus dem 
Schall des Katzentrittes, dem Bart der Weiber, den Wurzeln der Berge, 
dm Sehnen der Bären, der Stimme der Fische und dem Speichel der 
Vögel. Dazu war das Band glatt und weich wie ein Seidenband. 
Als es die Ajen empfingen, dankten sie dem Boten, daß er dm Auftrag 
so gut ausgerichtet habe, und gingen zu dem Wolfe. Sie zeigten es 
ihm und baten ihn, es zu zerreißen wie die früheren. Zwar sei es 
etwas stärker, als es aussähe, meinten sie, auch versuchten sie selbst ver¬ 
geblich ihre Stärke daran; aber er würde es schon zerreißen. Der 
Wolf entgegnete: „Ist diese dünne Schnur ein gewöhnliches Band, so 
werde ich damit wenig Ehre einlegen, wenn ich es zerreiße. Ist es aber 
mit List und Betrug gemacht, so kommt es nicht an meine Füße."
	        
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