24
Göttersagen.
Zio—Tyr.
Als die Götter die Brut Lokis unschädlich machten, Hel in die
Unterwelt, die Midgardschlange ins Meer warfen, behielten sie den noch
jungen Fenriswolf bei sich und zogen ihn auf. Er war jedoch von
Anfang an so furchtbar, daß nur Tyr es wagte, zu ihm zu gehen und
ihm das Futter zu geben. Als nun die Götter sahen, wie sehr der
Wolf von Tag zu Tag wuchs, und alte Weissagungen kündeten, daß er
zu ihrem Verderben bestimmt sei, beschlossen sie eine sehr starke Fessel
zu machen. Die brachten sie dem Wolfe und baten ihn, sich zur Probe
seiner Kraft die Fessel anlegen zu lassen; denn sie glaubten, das Untier
würde im Vertrauen aus seine Stärke ihnen willfahren. So geschah
es auch: geringschätzig blickte der Wolf auf die Fessel und hieß die Asm
damit machen, was sie wollten. Kaum aber war er gebunden, da reckte
er sich nur einmal, und das Band war zerrissen. Darauf machten die
Asm eine noch stärkere Fessel und reizten den Wolf, sich auch diese an¬
legen zu lassen, indem sie sagten, er würde seiner Kraft wegen sehr
berühmt werden, wenn auch so starke Bande ihn nicht halten könnten.
Zwar sah der Wolf, daß diese Fessel viel stärker war; aber er gedachte,
daß auch seine Kraft gewachsen sei, seit er die erste gebrochen, und daß
man nicht berühmt werden könne, ohne einige Gefahr zu bestehen. Er
ließ sich also abermals binden. Als aber die Äsen damit fertig waren,
schüttelte er sich und schlug die Fessel an dm Boden, daß die Stücke
weit davon flogen. Da fürchteten die Äsen, sie würden den Wolf gar
nicht mehr binden können.
Odin aber schickte zu den Zwergen in Schwarzalfenheim, welche
als die kundigsten Zauberschmiede galten. Die verfertigten eine Fessel,
Gleipnir genannt, die war gemacht aus sechserlei Dingen: aus dem
Schall des Katzentrittes, dem Bart der Weiber, den Wurzeln der Berge,
dm Sehnen der Bären, der Stimme der Fische und dem Speichel der
Vögel. Dazu war das Band glatt und weich wie ein Seidenband.
Als es die Ajen empfingen, dankten sie dem Boten, daß er dm Auftrag
so gut ausgerichtet habe, und gingen zu dem Wolfe. Sie zeigten es
ihm und baten ihn, es zu zerreißen wie die früheren. Zwar sei es
etwas stärker, als es aussähe, meinten sie, auch versuchten sie selbst ver¬
geblich ihre Stärke daran; aber er würde es schon zerreißen. Der
Wolf entgegnete: „Ist diese dünne Schnur ein gewöhnliches Band, so
werde ich damit wenig Ehre einlegen, wenn ich es zerreiße. Ist es aber
mit List und Betrug gemacht, so kommt es nicht an meine Füße."