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Tief den Soldaten zu und winkte ihnen mit dem Glase. Diese ließen
den freundlichen Wink nicht unbeachtet, kamen herangeritten und labten
sich an dem Trunk. Der Krug war bald geleert, Johanna setzte ihn
nieder. Sollte sie jetzt unthätig bleiben, da so viele handelten? Aber
was konnte sie thun, ein schwaches Weib? Doch sie fühlte sich stark, sie 5
wußte ja auch, daß ihre Kräfte in ungewöhnlichen Augenblicken sich steigern
müßten. Es trieb sie hinaus in den Kamps, sie wollte nicht in den
Versteck zurück, sie wollte nicht vor der Gefahr fliehen, indes so viele für
die Erlösung ihrer Vaterstadt ihr Leben wagten.
Eilig verließ sie das Haus, in wilder Hast jagten die flüchtigen 10
Sachsen und Franzosen an ihr vorüber. Verwundete und Tote bedeckten
die Straßen. Unter ihnen erkannte sie die Frau eines Sachsen, der bei
ihrer Mutter bis zum Morgen im Quartier gelegen. Aus der Flucht
der Franzosen und Sachsen schloß sie, daß der Sieg sich aus Seiten der
Verbündeten neige. Als sie weiter ging, ward ihre Aufmerksamkeit ans 15
zwei Männer gelenkt, die in einem Weggraben mehrere Fässer öffneten
und fluchten, statt der gehofften Beute nur Patronen zu finden, deren
Kugeln, wie sie sagten, nach einem in der Stadt allgemein verbreiteten
Gerüchte, vergiftet sein sollten. Johanna richtete ihren Weg nach dem
in der Stadt gelegnen Kalkberg, um von da aus die Entscheidung der 20
Schlacht zu sehen. Hier traf sie einen alten Soldaten aus dem sieben¬
jährigen Krieg, mit einem Fernrohr das Gefecht verfolgend. Mit Hilse
dieses Fernrohres konnte auch Johanna einen Blick aus das Schlachtfeld
werfen. Von dem alten Soldaten hörte sie zu ihrer großen Betrübnis,
daß das Gefecht sich im Augenblick für die Verbündeten ungünstig gestalte. 25
Die Franzosen rückten von neuem vor, und die Preußen müßten, wie der
alte Soldat meinte, sich bei dem langen Kamps bald verschossen haben.
General Morand hatte in der That, da er sich von allen Seiten
bedroht und zurückgedrängt sah, gegen Mittag den Rückzug und die
Räumung der Stadt besohlen. Kaum aus den Thoren gezogen, ward er 30
von russischer Reiterei umzingelt und von einer aufgefahrenen Batterie
heftig beschossen. In dieser gefährlichen Lage faßte er den Entschluß, sich
wieder nach der Stadt zu wenden, wo einige französische und sächsische
Bataillone noch standhielten. Diese Umkehr hatte der alte Soldat gesehen
und sehr richtig erkannt, daß sie den Verbündeten verhängnisvoll werden 35
konnte. Das Gefecht näherte sich immer mehr dem Kalkberge, der Soldat
schickte sich zum Gehen an. „So, Mädchen, nun mach, daß du auch
heim kommst," sagte er zu Johanna. An Stelle der frohen Erwartung
erfüllte nun tiefe Trauer ihre Seele. Sie verließ den Berg und ging
nach dem neuen Thor zu, wo der Kamps am heftigsten entbrannt war. 40
Nachdem sie eine kurze Strecke zurückgelegt, sah sie einen ihrer Bekannten,
Namens Müller, aus einem bei der Flucht im Stich gelaffnen Pnlverwagen
sitzen und eifrig nmhersnchen. „Was sucht Ihr da, Müller?" fragte sie