Full text: Für Klasse IV und III (6tes und 7tes Schuljahr) (Teil 3, [Schülerband])

101 
Tief den Soldaten zu und winkte ihnen mit dem Glase. Diese ließen 
den freundlichen Wink nicht unbeachtet, kamen herangeritten und labten 
sich an dem Trunk. Der Krug war bald geleert, Johanna setzte ihn 
nieder. Sollte sie jetzt unthätig bleiben, da so viele handelten? Aber 
was konnte sie thun, ein schwaches Weib? Doch sie fühlte sich stark, sie 5 
wußte ja auch, daß ihre Kräfte in ungewöhnlichen Augenblicken sich steigern 
müßten. Es trieb sie hinaus in den Kamps, sie wollte nicht in den 
Versteck zurück, sie wollte nicht vor der Gefahr fliehen, indes so viele für 
die Erlösung ihrer Vaterstadt ihr Leben wagten. 
Eilig verließ sie das Haus, in wilder Hast jagten die flüchtigen 10 
Sachsen und Franzosen an ihr vorüber. Verwundete und Tote bedeckten 
die Straßen. Unter ihnen erkannte sie die Frau eines Sachsen, der bei 
ihrer Mutter bis zum Morgen im Quartier gelegen. Aus der Flucht 
der Franzosen und Sachsen schloß sie, daß der Sieg sich aus Seiten der 
Verbündeten neige. Als sie weiter ging, ward ihre Aufmerksamkeit ans 15 
zwei Männer gelenkt, die in einem Weggraben mehrere Fässer öffneten 
und fluchten, statt der gehofften Beute nur Patronen zu finden, deren 
Kugeln, wie sie sagten, nach einem in der Stadt allgemein verbreiteten 
Gerüchte, vergiftet sein sollten. Johanna richtete ihren Weg nach dem 
in der Stadt gelegnen Kalkberg, um von da aus die Entscheidung der 20 
Schlacht zu sehen. Hier traf sie einen alten Soldaten aus dem sieben¬ 
jährigen Krieg, mit einem Fernrohr das Gefecht verfolgend. Mit Hilse 
dieses Fernrohres konnte auch Johanna einen Blick aus das Schlachtfeld 
werfen. Von dem alten Soldaten hörte sie zu ihrer großen Betrübnis, 
daß das Gefecht sich im Augenblick für die Verbündeten ungünstig gestalte. 25 
Die Franzosen rückten von neuem vor, und die Preußen müßten, wie der 
alte Soldat meinte, sich bei dem langen Kamps bald verschossen haben. 
General Morand hatte in der That, da er sich von allen Seiten 
bedroht und zurückgedrängt sah, gegen Mittag den Rückzug und die 
Räumung der Stadt besohlen. Kaum aus den Thoren gezogen, ward er 30 
von russischer Reiterei umzingelt und von einer aufgefahrenen Batterie 
heftig beschossen. In dieser gefährlichen Lage faßte er den Entschluß, sich 
wieder nach der Stadt zu wenden, wo einige französische und sächsische 
Bataillone noch standhielten. Diese Umkehr hatte der alte Soldat gesehen 
und sehr richtig erkannt, daß sie den Verbündeten verhängnisvoll werden 35 
konnte. Das Gefecht näherte sich immer mehr dem Kalkberge, der Soldat 
schickte sich zum Gehen an. „So, Mädchen, nun mach, daß du auch 
heim kommst," sagte er zu Johanna. An Stelle der frohen Erwartung 
erfüllte nun tiefe Trauer ihre Seele. Sie verließ den Berg und ging 
nach dem neuen Thor zu, wo der Kamps am heftigsten entbrannt war. 40 
Nachdem sie eine kurze Strecke zurückgelegt, sah sie einen ihrer Bekannten, 
Namens Müller, aus einem bei der Flucht im Stich gelaffnen Pnlverwagen 
sitzen und eifrig nmhersnchen. „Was sucht Ihr da, Müller?" fragte sie
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.