122 Prosa. 3. Erzählungen aus der alten Sage u. Geschichte.
zu drohen, zog ich den Haß des falschen Odysseus auf mich und wurde während
dieser zehn Kriegsjahre unablässiig von ihm geplagt. Auch ruhte er nicht, bis
er mit dem lügnerischen Seher Kalchas meinen Untergang verabredet hatte.
Als nämlich meine Landsleute die oft beschlossene und immer wieder aufgeschobene
Flucht ins Werk setzten und dieses hölzerne Pferd hier schon ausgezimmert
stand, schickten sie einen Boten zu einem Orakel des Apollo, weil sie am
Himmel bedenkliche Wnnderzeichen beobachtet hatten. Dieser brachte aus dem
Heiligtum des Gottes den traurigen Spruch: „Ihr habt bei eurem Auszuge
die empörten Winde mit dem Blute einer Jungfrau versöhnt, mit Blut müßt
ihr auch den Rückweg erkaufen und eine Griechenseele opfern." Kalter Schauer
lief unsern Helden durch die Glieder, als sie diesen Spruch des Gottes ver¬
nahmen. Da zog Odysseus den Seher Kalchas mit großem Lärm in die
Versammlung und gebot ihm, den Willen der Götter zu deuten. Fünf Tage
lang schwieg der Betrüger, sich heuchlerisch weigernd einen Griechen für den
Tod zu bezeichnen. Endlich, wie gezwungen durch das Drohen des Odysseus,
nannte er meinen Namen. Alle stimmten bei; denn jeder war froh, das Ver¬
derben von dem eigenen Haupte abgewendet zu sehen. Und schon war der
Schreckenstag erschienen, ich wurde zum Opfer geschmückt, mein Haupt mit
heiligen Binden umwunden, der Altar und das geschrotene Korn in Bereitschaft
gehalten. Da zerriß ich meine Baude, entfloh und versteckte mich, bis sie ab¬
gesegelt waren, im Schilfrohr des Sumpfes, wo mich die Hirten gefunden
haben. In mein Vaterland und zu meinem Volk kann ich nicht zurückkehren.
Ich bin in eurer Hand, und von euch hängt es ab, ob ihr mir großmütig das
Leben schenken oder mir den Tod geben wollt, der mir von der Hand meiner
eigenen Volksgenossen gedroht hat."
Die Troer waren gerührt, Priamus sprach gütige Worte zu dem Heuchler
und versprach ihm eine Zuflucht in seiner Stadt, wenn er ihnen offenbaren
wollte, was für eine Bewandtnis es mit dem hölzernen Rosse habe, das die
Griechen erbaut hätten. Worauf der Arglistige mit frommen Mienen fortfuhr
zu erzählen, wie die Griechen, um ihre Schutzgöttin Athene zu versöhnen, welche
über den heimlichen Raub ihres Bildes aus der troischen Burg erzürnt war,
das hölzerne Roß gebaut hätten als Weihgabe für die Göttin, und zwar von
so ungeheurer Höhe, damit die Troer das' Geschenk nicht durch ihre Tore in
die Stadt bringen könnten, weil alsdann der Schutz der Göttin den Troern
zuteil werden würde; wenn sich dagegen die Troer an dem Pferde vergriffen
und es zerstörten, so würde diese Tat ihrer Stadt Verderben bringen.
Priamus und die Troer schenkten dem Betrüger Glauben und wurden noch
mehr von der Wahrheit seiner Erzählung überzeugt, als sich zu derselben Zeit
ein Vorfall ereignete, in dem sie eine Bestrafung des Priesters Laokoon wegen