Aus dem trojanischen Kriege: Die Eroberung von Troja.
123
seines frevelhaften Zweifels an der heiligen Bestimmung des Rosses sahen.
Von der Insel Tenedos her kamen zwei riesige Schlangen mit blutroten Mähnen
durch das Meer geschwommen auf die Stelle zu, wo Laokoon an einem Altare
stand, eben im Begriff den Göttern ein Dankopser zu bringen für die Rettung
aus langer Kriegsnot. Seine beiden jungen Söhne waren ihm dabei behilflich.
Beim Anblick der Schlangen fuhr das Volk entsetzt auseinander. Aber- die
Ungetüme schossen geradeswegs auf die Knaben zu und ringelten sich um ihre
Leiber, indem sie zugleich die giftigen Zähne in die zarten Glieder schlugen.
Als Laokoon den Söhnen mit dem Schwerte zu Hilfe eilte, zogen die Schlangen
auch seiuen Leib in ihre tödlichen Windungen. Vergebens suchte er sich ihrer
zu erwehren, er erlag mit seinen Kindern den giftigen Bissen. Die Schlangen
aber eilten, als sie das gräßliche Werk vollbracht hatten, in die Burg hinauf
zum Tempel der Athene und verbargen sich unter dem Bilde der Göttin.
Nun zweifelten die Troer nicht mehr an der Heiligkeit des Rosses; sie
rissen einen Teil ihrer Mauer ein, um dem riesigen Tiere eine Straße zu öffnen,
und zogen es jubelnd in die Stadt. Die Stimme der weissagenden Kassandra,
einer Tochter des Priamus, die allein von allen das drohende Verderben ahnte,
wurde überhört oder verachtet. Alle überließen sich der Freude bei Schmaus
und Gelag; Musik und Gesang schallten durch die Straßen der Stadt, und
von Wonne und Wein berauscht, sanken die Bewohner in tiefen Schlaf. Da
lief Sinon an den Strand des Meeres und gab durch eine brennende Fackel
den Griechen auf Tenedos das verabredete Zeichen. Hierauf öffnete er die
kunstvoll versteckte Tür am Bauche des Rosses, und heraus stiegen die gewaff-
neten Helden. Eilends verbreiteten sie sich durch die Straßen und Häuser der
Stadt und richteten ein entsetzliches Blutbad an. Feuerbrände wurden in die
Wohnungen geschleudert, und bald loderten die Dächer in hellen Flammen.
Inzwischen waren auch von Tenedos die anderen Griechen angelangt und
stürzten durch die offene Mauer in die Stadt, die sich bald mit Verwundeten,
Sterbenden und Toten füllte. In dem furchtbaren Getümmel erlagen auch nicht
wenige der Griechen unter den Streichen der verzweifelten Troer oder den ein¬
stürzenden Mauern der brennenden Tempel und Häuser. Weder Geschlecht noch
Alter wurde geschont. Neoptolemus erschlug den greisen Priamus ain heiligen
Altar des Zeus, Hektors kleiner Sohn Astyanax ward ans den Armen der
Mutter gerissen und vom Turme hinabgeschleudert. Nur die Wohnung des
Antenor ward verschont, weil er einst dem Odysseus und Menelaus, da sie
als Gesandte in Troja weilten, das Leben gerettet hatte. Äneas nahm seinen
alten Vater Anchises aus den Rücken, seinen Sohn Askanios an die Hand und
eilte durch die brennende Stadt über Leichen und Trümmer der Küste zu. Dort
gelang es ihm mit vielen Gefährten auf Schiffen zu entkommen und, nach