Full text: Mittelstufe: Erster Kursus (Teil 3, [Schülerband])

44 
Thräne tropfte herab auf das Hauptbuch. Da schrak er zusammen, fuhr 
mit der Hand über Stirn und Augen, wie aus schwerem Traum er¬ 
wachend, legte langsam die Feder nieder, klappte leise das Buch zu 
und ging langsam hinauf in das Familienzimmer. Dort kleidete er sich 
in seine volle Amtstracht als Ratsherr, küßte seine Frau und seine 
drei munteren Knaben und ging mit der Äußerung, daß heute Sitzung 
wäre, sie sollten mit dem Essen nicht warten, hinunter. Die grüne Gasse 
entlang schritt er dem Rathause zu; ein Diener trug ihm das schwere 
Hauptbuch nach. Im Ratssaale legte er vor den erstaunten Kollegen 
die Ehrenzeichen seiner Würde ab und gab sich als insolvent an. Die 
Herren erschraken, sahen seine Bücher ein, erkannten daraus seine Schuld¬ 
losigkeit und beschlossen einstimmig, daß ihm noch eine halbjährige Frist 
gestattet sein solle als die äußerste Zeit, in welcher man Jansen noch 
zurückerwarten könne, wenn das Schiff nicht verunglückt sei. 
Das halbe Jahr und zwei Monate darüber waren schon verstrichen 
— Jansen war nicht gekommen. Herrn Hermanns Umstände hatten, 
statt sich zu heben, sich verschlimmert; da drangen die schon durch die 
Fristvergünstigung erbitterten Gläubiger so ungestüm auf den strengsten 
Vollzug des Gantes, daß der Magistrat notgedrungen dem Rechte in 
voller Ausdehnung seinen Gang lassen mußte. Es war alles versiegelt 
worden und dem armen Gruit nebst Familie nur das kleine Stübchen, 
in welchem sonst der Hausknecht schlief, links am Haupteingange des 
Hauses, geblieben. 
Eben hatte die Versteigerung der fahrenden Habe im geräumigen 
Comptoir, jenem Stübchen gegenüber, begonnen; gedrängt voll Menschen 
war das Zimmer; laut tönte die Stimme des Ausrufers. Schrecklich 
klang dieser Ruf Herrn Hermann drüben im Stübchen, und mit jedem 
Niederfallen des Hammers fuhr es ihm wie ein Schwert durchs Herz; 
er saß, den Kopf in die Hand gestützt, tiefsinnig am Fenster und starrte 
das Schild seines Nachbarn, des Wirts zum Westindienfahrer, an, als 
wollte er es mit den Augen festnageln. Die gute Frau Elisabeth aber 
saß am Ofen, die rotgeweinten Augen zur Erde gewendet, die Hände 
gefaltet und zusammengepreßt, während die beiden jüngeren Kinder mit 
der großen Angorakatze spielten; Fritz aber, der älteste, hielt den quer 
vor der Thür liegenden zottigen Voll, den Haushund, bei beiden Ohren 
fest, als er auf ein Anklopfen an die Thür knurrend aufspringen wollte, 
und sagte begütigend: „Sei nur still, Voll, ich leid's nicht, daß sie dich 
verkaufen." Vorsichtig über den Hund wegschreitend, trat Stephan, der 
Ratsdiener herein, ein gutmütiger Alter, der früher, in besseren Zeiten, 
so oft mit freundlichem Bückling Herrn Hermann die Thür des Rats¬ 
saales geöffnet hatte, und sagte mit vor Mitleid zitternder Stimme: 
„Herr Senator, den Lehnsessel soll ich holen." Da wandte Herr Her¬ 
mann den Blick und sprach seufzend: „Ach, das ist das Härteste; doch
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.