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93. Der Gärtner. 94. Einer oder der Andere.
Kurze Zeit darauf lief das nämliche Mäuschen durch den Wald und suchte
sich Nüsse, da hörte es das klägliche Gebrüll eines Löwen. Der ist in Gefahr,
sprach es bei sich und ging der Stelle zu, wo das Gebrüll herübertönte. Es
fand den großmüthigen Löwen von einem starken Netze umschlungen, das der
Jäger künstlich ausgespannt hatte, um damit große Waldthiere zu fangen. Die
Stricke hatten sich so künstlich zusammengezogen, daß der Löwe weder seine Zähne,
noch die Stärke seiner Tatzen gebrauchen konnte, um sie zu zerreißen.
,,Warte nur, mein Freund," sagte das Mäuschen, „da kann ich dir wohl
am besten helfen." — Es lief hinzu, zernagte die Stricke, welche seine Vorder¬
tatzen gefesselt hatten, und als diese frei waren, zerriß er das übrige Netz und
ward so durch die Hilfe des Mäuschens wieder frei. Nach Acsop. '
93. Der Gärtner.
Ein Gärtner pflanzte an die Gartenwand ein Bäumchen von besonders
guter Art. So wie es jährlich größer wurde, trieb es starke Sprößlinge; allem
der Gärtner schnitt mit jedem Frühjahr und jedem Sommer viele derselben ab;
es war wildes Holz, wie er sagte, welches den guten Zweigen schadet, ihnen die
Säfte benimmt und sie ganz mit Schatten überzieht. Die Kinder wunderten sich
und konnten dies Benehmen nicht begreifen; allein nach einigen Jahren gab das
Bäumchen seine ersten Früchte, die den Kindern köstlich schmeckten. Der Gärtner
fuhr aber immer fort zu beschneiden.
Das Bäumchen ist das Kind, der Gärtner ist der Vater und der Lehrer.
Dem Kinde sind von Gott gute Gaben ertheilt und erhebliche Triebe; allein diese
arten leicht aus, verderben das Gute an Leib und Seele, daher Vater und Lehrer
am Kinde stets zurechtweisen, es belehren, tadeln und selbst züchtigen müssen.
Dann wächst zuletzt ein liebenswürdiger Jüngling und nützlicher Mann, eine gute
Tochter heran; stets aber muß der Mensch Dies und Jenes au sich bessern.
ä n l c.
94. Einer oder der Ändert.
Es ist nichts lieblicher, als wenn bisweilen gekrönte Häupter sich uuerkaunt
zu dem gemeinen Mann herablassen, wie König Heinrich der Vierte von Frank¬
reich, sei es auch nur zu einem gemüthlichen Spaß.
Zu König Heinrich des Vierten Zeiten ritt ein Bäuerlein vom Lande Her¬
des Weges nach Paris. Nicht mehr weit von der Stadt gesellt sich zu ihm ein
anderer, gar stattlicher Reiter, welches der König war, und sein kleines Gefolge
blieb absichtlich in einiger Entfernung zurück. „Woher des Landes, guter Freund?"
— „Da und daher." — „Ihr habt wohl Geschäfte zu Paris?" — „Das und
Das; auch möchte ich gern unsern guten König einmal sehen, der so väterlich sein
Volk liebt." — Da lächelte der König und sagte: „Dazu kann euch heute Ge¬
legenheit werden." — „Aber wenn ich nur wüßte, welcher er ist unter den Vielen,