Full text: Vaterländisches Lesebuch für untere und mittlere Klassen höherer Lehranstalten

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schwarze Adler. Die Eichhörnchen schwingen sich lustig von Baum zu 
Baum, und der Luchs sitzt oben auf der Lauer, um auf ein grasendes 
Reh herabzuspringen. Der Bär hat hier unter den Bäumen und 
Gebüschen mehr Wohnungen als der Mensch, und nur selten erscheint 
hie und da, wo sich der Wald zum freien Felde lichtet, die trauliche 
Hütte eines lettischen oder esthnischen Waldwächters. 
Im Frühling, wenn alles grünt und treibt, und besonders in den 
hellen, zauberischen Juniusnächten feiern diese Wälder ihre schönsten 
Stunden. Der frische, balsamische Duft der jungen Keime des Fichten¬ 
laubes würzt die Luft. Zuzeiten steigen bei leichten Windstößen 
dichte Wolken befruchtenden Samenstaubes in die Lüfte zum Zeichen des 
unermeßlichen Pflanzensegens. Scharen von großen und kleinen Vögeln 
hüpfen und singen und zwitschern tu den Zweigen, von niemand belauscht 
als etwa von einem kühnen Wanderer, der es wagt, in des Waldes 
Geheimnisse einzudringen. 
38. Geschichte einer Kornähre. 
Wenn du ein Getreidekörnlein in der Hand hast, so denkst du wohl 
nicht daran, daß dies etwas Lebendiges ist. Du hältst das Körnlein 
an dein Ohr; es giebt keinen Laut von sich. Du legst es auf den 
Tisch; es rührt sich nicht. Es ist nicht wartn, nicht kalt, und doch steckt 
viel Leben darin. Der liebe Gott hat sogar in dieses eine kleine Körn¬ 
chen einen großen Halm mit einer langen Ähre von vielen Körnern 
versteckt, wenn es der Mensch mit seinen Augen auch nicht sehen kann. 
Kannst du doch auch in dein Vogelei keine Federn, keine Flügel und 
keinen Schnabel sehen, und doch steckt ein ganzer Vogel darin. Das 
Korn ist auch ein solches Ei, das von der Erde rvie von einer Brut¬ 
henne ausgebrütet tvird. Der in ihm liegende Keim ist wohl verwahrt. 
Wie bei dem Ei, kommt erst eine gröbere, härtere Schale, die den 
weichen Kern wie ein Panzer umgiebt. Zwischen ihr und dem Kerne 
liegt noch eine feinere, tveichere Haut, damit die äußere nicht zu 
sehr drücke. 
Hat das Samenkorn eine Zeit laug in der dunkeln Erde geschlum¬ 
mert, so wecken es die Sonnenstrahlen aus seinem Schlafe; der Keim 
in seinem Innern regt sich. Er saugt die weiße Milch aus, die ihn 
umgiebt. Dadurch wird er bald so stark, daß er die äußere Schale 
zersprengt und zwei Spitzen hervortreibt, die man das Federcheu und 
das Würzelchen nennt. Das Würzelchen geht nach unten in die Erde; 
denn es weiß, daß es da Speise und Trank findet. Dabei teilt es sich
	        
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