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der Stelle des Felsens, wo er, zu einer niedlichen, blendendweißen Grotte
ausgehöhlt, der klaren Quelle den Austritt gestattet. Die aufgehende
Sonne streut kosend ihre Lichtfunken wie Goldgarben zwischen den
Zitternden Blättern hindurch und beleuchtet die tanzenden, hüpfenden
Wellen. Ein Laubsänger zwitscherte eben noch sein leises Lied im Wei߬
dorn — es war sein Morgengesang; jetzt ist alles so feierlich still, als
lei der Wald eine Kirche und alle Blumen feierten Sonntag; nur die
Schwätzerin „Quelle" plaudert und murmelt in einem fort. Unzähl¬
bare Wellen drängen wirbelnd in den Steinen und dem Sande des
Bodens hervor und reißen in rastlosem Sprunge die weißen Körnchen
lveit nach oben.
„Ihr Wellen, warum eilt ihr fo ohne Ruh? Warum treibt ihr
so hastig hervor, daß ihr wie kleine Springbrunnen über beit Spiegel
des Wasserbeckens emporwallet?" —
„O", sagen sie, „unser sind viele, sehr viele! Drinnen im Berge
sind ihrer noch Tausend und weiter drin noch Tausend und noch Tausend,
ja, wer kann sie zählen? Alle, alle wollen heraus und schieben und
drücken und zwängen bis zu der kleinen Thür, die du die Quelle
nennst, — da ist an ein anständiges, feierlich langsames Herausgehen
nicht zu denken, sondern Holter, Polter, wie die Knaben aus der engen
Schulthüre stürzen, wenn der Schulmeister einen freien Tag giebt, so
geht es hinaus, und, was in den Weg kommt, wird fortgerissen." —
Ich warf ein schieferiges Steinchen hinein, aber die sprudelnden Wellen
schleuderten es augenblicklich zur Seite. „Nun", fragte ich weiter,
„wenn ihr's so eilig habt, wo seid ihr denn bis jetzt so lange gewesen,
und was habt ihr bis heute getrieben? Habt ihr etwa von der Zeit
an, als die Taube dem Noah das Ölblatt brachte zum Zeichen, daß
sich das Gewässer auf Erden verlaufen hatte, dem Sonnenlichte
Ade gesagt und euch verkrochen in irgend einem unterirdischen See
und dort träge geruht Jahrtausende hindurch bis heute gerade zum
Sonntag?" —
„Nein, nein, nein!" gaben Hunderte von kleinen Tropfen auf ein¬
mal zur Antwort, die alle zugleich ihrem Gefängnisse enteilten. Es ent¬
stand ein solches Durcheinanderwispern und Plätschern, jeder wollte zuerst
erzählen, wie er fleißig gewesen sei, und was er alles vorgenommen
habe, daß ich unmöglich etwas verstehen konnte. Ich beugte mich deshalb
nieder zur Quelle, schöpfte mit der hohlen Hand eine kleine Welle
heraus, die eben emporquoll, und ließ einen Tropfen nach dem andern
langsam wieder hinabträufeln, um sie einzeln besser zu verstehen-
Welche unendlich bunten Geschichten erfuhr ich!